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Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Titel: Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Butler
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maßgeblich sind. In diesem Sinn ist Eichmann selbst eine ganz neue Art von Person, ein Verbrecher ohne Vorbild. Deshalb müssen die Mechanismen und Bedingungen des Rechts neu durchdacht und auf die neuartige Situation ausgerichtet werden. Obgleich Arendt bezweifelt, dass sich psychologische Motive und Intentionen in einem solchen Fall adäquat rekonstruieren lassen, schreibt sie sowohl Eichmann wie den Richtern interessanterweise doch ganz bestimmte Intentionen zu. Indem sie ausspricht, »was sie gesagt hätten«, hätten sie es gewagt, die ihr Verhalten leitenden Normen deutlich zu machen, setzt sie bestimmte normative Haltungen, ja Begründungsformen voraus, die sich nur nachträglich kontrafaktisch eruieren lassen. Hätten sie angemessen gedacht und gesprochen oder hätten sie dem Recht angemessen zum Ausdruck verholfen, dann hätten sie die Grundsätze ihres Handelns benannt; da beide Seiten dies aber nicht taten, tut Arendt es für sie. Es geht nicht um die Rekonstruktion der Psychologie der Person, sondern um die Rekonstruktion der in einem bestimmten Verhalten implizierten Normen. Arendt scheint zwar verdeutlichen zu können, dass »Absicht« eine alles andere als bewusste Form moralischer Überlegung ist, aber eine Schwierigkeit bleibt doch: Verweist diese undurchschaubare und fremde Region der Reflexion nicht wiederum auf eine bestimmte psychologische Topografie, auf einen Verleugnungsmechanismus, dem eine aggressive therapeutische Intervention entgegenarbeitet, um die in der schweigenden oder unzureichenden Rede enthaltenen moralischen Bindungen zutage zu fördern?
    Arendt scheint besser als Eichmann und besser als die Richter zu wissen, was sie eigentlich sagen wollten und hätten sagen sollen, aber sie behauptet die Position des allwissenden philosophischen Archäologen nicht durchgehend. In dieser direkten Anrede an Eichmann wird eine tiefere emotionale Identifikation mit den Jerusalemer Richtern spürbar, als ihre schneidende Kritik an ihnen erwarten ließe. Ihre Stimme verschränkt sich mit den Stimmen der Richter und lässt sich aus dieser Pluralität kaum noch lösen. Die Stimme ist schließlich sowohl ihre wie nicht ihre: Es ist die Stimme der Richter, sofern sie Mut bewiesen hätten; was Arendt schreibt, ist also die mutigeVersion des Urteils. Das scheint ihre eigene Stimme zu sein, aber indem sie ausspricht, was den Richtern zugeschrieben wird, scheint sie sich hier auch von der eigenen Stimme zu trennen.
    Kehren wir kurz zu dem Absatz zurück, der diesem Urteil in Anführungszeichen vorhergeht. Wenn Arendt schreibt: »Die Rechtmäßigkeit dessen, was in Jerusalem getan wurde, [wäre] manifest geworden, wenn die Richter es gewagt hätten, an den von ihnen Angeklagten etwa die folgenden Worte zu richten« (EJ S.   402), scheint sie das Urteil zunächst als rechtmäßig anzuerkennen, das sie an anderer Stelle als Vergeltung verworfen hatte. Möglicherweise stellt Arendt hier schlicht fest, dass uns allen der im Hintergrund stehende Vergeltungsgedanke deutlich geworden wäre, hätten die Richter ihrer Auffassung von Rechtmäßigkeit nur Ausdruck verliehen. Welcher Version der Rechtmäßigkeit gibt nun aber Arendt Ausdruck – derjenigen der Richter oder ihrer eigenen?
    Wir müssen hier also zwei Deutungen des Geschehens auseinanderhalten. Nach der ersten sagt Arendt, was die Richter hätten sagen sollen, hätten sie wahrhaft rechtmäßig geurteilt. Arendt ist vielleicht sogar der Auffassung, dass die Richter zur richtigen Entscheidung gelangt sind (was sie ausdrücklich festhält), nicht aber auf dem richtigen Weg und dass sie ihre Entscheidung nicht richtig begründet haben. Möglicherweise beinhaltet das Urteil der Richter auch eine implizite Reflexion, die Arendt ans Licht zu bringen hat, um die angemessene Urteilsbegründung »manifest zu machen«.
    Die zweite Interpretation ist die, dass Arendt tatsächlich dem Ausdruck gibt, was die Richter gesagt hätten, hätten sie die wahren Gründe ihres Handelns benannt, während sie deren tatsächlich gegebene Begründung verwirft. Nach dieser Auslegung klagt Arendt die Richter an und wirft ihnen vor, dass das, was sie rechtmäßig nennen, in Wahrheit nicht rechtmäßig ist. Vor allem aber geht es ihr darum, dass diese Wirkung des Vergeltungsgedankens nicht sichtbar und hörbar wurde und dass ein gewisses Verwaltungsrauschen die in Wahrheit archaischen und barbarischen Gründe des Todesurteils überdeckt hat.
    Gehen wir von der zweiten Deutung des

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