Am Seidenen Faden
sichtbaren Zeichen des Wachstums Ausschau hielt, während aus dem Säugling unaufhaltsam ein Kleinkind wurde. Sie war ein so bezauberndes Kind, so eigenwillig und voller Selbstvertrauen, mit der unerschütterlichen Gewißheit des kleinen Kindes, in allem absolut recht zu haben, daß es mir noch heute schwerfällt, dieses Bild mit dem Menschen in Einklang zu bringen, der dann aus ihr geworden ist, eine verlorene Seele, einer jener Menschen, die ziellos durch das Leben irren, immer überzeugt, daß Glück und Erfolg gleich hinter der nächsten Ecke warten. Nur daß sie immer wieder von ihrem Weg abkam, vergaß, in welche Richtung sie eigentlich wollte, um die falsche Ecke bog und in einer Sackgasse landete.
Manchmal erinnert mich meine ältere Tochter Sara an sie, die auch alles auf dem Weg bitterer Erfahrung lernen muß, und das macht mir angst. Vielleicht ist das der Grund, warum ich ständig etwas an ihr auszusetzen habe, wie sie erklärt. Das heißt, Sara erklärt nie etwas – sie brüllt einfach los. Sie ist der Meinung, daß man bei einer Auseinandersetzung nur gewinnen kann, wenn man immer wieder dasselbe sagt, nur jedesmal lauter als zuvor. Wahrscheinlich hat sie recht; entweder gibt man am Ende nach oder man läuft schreiend aus dem Zimmer. Ich habe beides häufiger
getan, als ich gern zugebe. Meine Klienten wären mit Recht entsetzt.
Sara ist siebzehn und knapp einen Meter achtzig groß. Sie hat wie Jo Lynn große grüne Augen und einen Wahnsinnsbusen. Ich weiß nicht, woher sie den hat. Um ehrlich zu sein, ich weiß eigentlich nicht einmal, wie ich zu ihr gekommen bin. Manchmal, wenn sie mitten in einer ihrer Tiraden ist, starre ich sie an und frage mich: Ist den Leuten im Krankenhaus vielleicht ein Irrtum unterlaufen? Kann dieses hochgewachsene, großäugige, großbusige Geschöpf, das da vor mir steht und kreischt wie ein Jochgeier, wirklich meine Tochter sein? Es gibt Tage, da sehe ich sie an und denke, daß sie das schönste Geschöpf auf Gottes Erdboden ist. Dann wieder gibt es Tage, da finde ich, daß sie aussieht wie Patricia Krenwinkel. Sie erinnern sich an sie – sie gehörte zu Charles Mansons Mörderbande, eine minderjährige Killerin mit finsterem Gesicht, das lange braune Haar in der Mitte gescheitelt, in den Augen einen Blick, der leer ist und doch unversöhnlich, der gleiche Blick, den ich manchmal in Saras Augen sehe. Sara trägt Sachen, die ich vor fünfundzwanzig Jahren ausrangiert habe, diese formlosen, durchsichtigen indischen Gewänder, die ich längst fürchterlich finde. Ganz anders Michelle, meine Vierzehnjährige, die nur Markenkleidung trägt und jeden Familienkrach aufmerksam aus der Kulisse verfolgt, um später ihren Kommentar dazu zu geben wie ein spilleriger, pubertärer griechischer Chor. Oder eine zukünftige Familientherapeutin.
Ist das der Grund, warum ich relativ wenig Schwierigkeiten mit meiner jüngeren Tochter habe? Möchte ich, wie meine Große unzählige Male behauptet hat, daß jeder so ist wie ich? »Ich bin nicht du«, brüllt sie mich an. »Ich bin ein eigener Mensch.« Und habe ich sie nicht genau dazu erzogen? War ich auch so rebellisch, so ungezogen, so schlichtweg ekelhaft? frage ich meine Mutter, die rätselhaft lächelt und mir versichert, ich sei vollkommen gewesen.
Jo Lynn, fügt sie müde hinzu, war da ganz anders.
»Ich wünsch dir eine Tochter, die genauso ist wie du«, höre ich
noch heute meine Mutter erbittert Jo Lynn zurufen, und mehr als einmal mußte ich mir auf die Zunge beißen, um nicht das gleiche zu meiner Tochter zu sagen. Aber ob nun aus Trotz oder Furcht, meine Schwester ist in drei gescheiterten Ehen kinderlos geblieben, und die Tochter, die Jo Lynns Ebenbild ist, wurde mir beschert. Ich finde das ungerecht. Ich war diejenige, die sich immer an die Regeln gehalten hat, die, wenn sie überhaupt rebellierte, dies innerhalb der vorgeschriebenen Grenzen tat. Ich machte die Schule fertig, ich studierte, ich rauchte nicht, ich trank nicht, ich nahm keine Drogen und heiratete den ersten Mann, mit dem ich je geschlafen hatte. Jo Lynn hingegen fing ihr Studium nur an, um es gleich wieder an den Nagel zu hängen, und war früh und häufig mit Männern zugange. Ich wurde Familientherapeutin; sie wurde der Alptraum jeder Familientherapeutin.
Warum ich das alles so ausbreite? Sind das denn Dinge, die die Polizei für relevant halten wird? Ich weiß es nicht. Um die Wahrheit zu sagen, ich weiß eigentlich überhaupt nichts mehr. Mein ganzes
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