Am Seidenen Faden
Er wird sich vielleicht jahrelang hinziehen.
Meine Mutter ist jetzt in einem Pflegeheim und genießt dort ein gewisses Ansehen, obwohl sie nicht zu begreifen scheint, wieso. Seit dem Morgen, als sie Colin Friendly mit dem Golfschläger niedermetzelte, hat sie kein Wort mehr gesprochen, und ich bin ziemlich sicher, daß sie keinerlei Erinnerung an den Zwischenfall hat. Ich bin nicht einmal sicher, ob sie mich noch erkennt, obwohl sie sich immer freut, wenn ich sie besuche.
Sara und Michelle begleiten mich oft bei diesen Besuchen. Saras Haar hat wieder seine natürliche braune Färbung, in ihrer Kleidung bevorzugt sie eine exzentrische Mischung aus Nutte und Hippie. Michelle hat Schwarz entdeckt. Die beiden sind viel in meiner Nähe, was angesichts dessen, was wir gemeinsam durchgestanden haben, ganz normal ist. Ich koste jede Minute davon aus, zum Teil auch deshalb, weil ich weiß, daß es nicht mehr lange so bleiben wird. Mehrmals habe ich in letzter Zeit den
Geruch von Zigaretten in Michelles Atem wahrgenommen und einen Anflug von Ungeduld in Saras Stimme gehört. Ich weiß, daß sie auf dem Sprung in ihr eigenes Leben sind. Ich wappne mich innerlich, versuche, mich darauf vorzubereiten, da ich weiß, daß es so sein muß. Ich kann sie nicht ewig behüten. Ich kann ihnen nur sagen, wie sehr ich sie liebe.
Die Therapie hat geholfen. Manchmal gehen wir alle zusammen; manchmal geht jede allein. Jahrelang habe ich mir die Probleme anderer angehört, jetzt entdecke ich wieder, wie gut es tut, über sich selbst zu reden. Aber der Weg zurück ins normale Leben ist lang; er wird Zeit brauchen. Ich bin nur dankbar, daß wir diese Zeit haben. Für Menschen wie Donna Lokash ist diese Zeit für immer verloren.
Die Polizei hat die Überreste Amy Lokashs in einem Grab neben dem Jugendlagerhäuschen im John Prince Park gefunden, genau an der Stelle, die Colin Friendly beschrieben hat. Sie hat auch sein sogenanntes »Schatzkästlein« gefunden, voll mit kleinen Dingen, die seinen Opfern gehörten. Alle waren säuberlich etikettiert und mit Namen und Todestag des jeweiligen Opfers versehen. Neunzehn waren es insgesamt, darunter ein Lockenwickel, der Friendlys Mutter gehört hatte, und ein kleines silbernes Kreuz, das einst Rita Ketchum um den Hals getragen hatte.
Damit kann die Polizei nunmehr unwiderlegbar beweisen, daß Colin Friendly für das Verschwinden sechs weiterer Frauen verantwortlich ist. Sechs weitere Fälle abgeschlossen.
Übrigens, ich hörte eben in den Nachrichten, daß Millie Potton gefunden wurde, als sie im Unterrock, sonnenverbrannt und verwirrt, sonst jedoch wohlauf, am Strand von Riviera Beach entlanghumpelte. Ich bin froh. Ich hatte mir Sorgen um sie gemacht.
Ich denke, das ist alles. Ich werde wahrscheinlich noch einige persönliche Dinge herausstreichen, ehe ich diesen Bericht der Polizei übergebe. Ich bin mir nicht sicher, ob er ihren Erwartungen entspricht. Aber ich habe mich bemüht, Fakten, Zusammenhänge und Erklärungen zu liefern. Ich habe mein Gedächtnis erforscht und meine Seele bloßgelegt. Sicher gibt es immer noch
Lücken. Aber ich habe mein Bestes getan. Und ich hoffe, es wird von Nutzen sein.
Wie dem auch sei, es ist Zeit, Vergangenes ruhen zu lassen und nach vorn zu schauen.
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Missing Pieces«
bei Doubleday, New York.
Der Goldmann Verlag
ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH.
Genehmigte Taschenbuchausgabe 8/99
Copyright © der Originalausgabe 1997 by Joy Fielding
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1997
by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der
Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH
Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin
BH · Herstellung: Sebastian Strohmaier
eISBN 3-641-05410-6
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