Am Seidenen Faden
Lynn liebte Publikum. Sie genoß ihre Wirkung auf meine Töchter, die sie offen anhimmelten, besonders Sara. Manchmal rotteten sie sich gegen mich zusammen, machten sich über meine angeblich konservative Art lustig, redeten davon, mich in einer dieser gräßlichen Talk-Shows vorzuführen, die sie sich manchmal ansahen. »Junge Frau, Sie müssen gründlich überholt werden!« rief Jo Lynn dann wohl mit der schrillen Stimme Rolandas oder Ricki Lakes, und Sara krümmte sich vor Lachen.
»Der ist ja süß«, murmelte Jo Lynn jetzt, so tief in die Zeitung vergraben, daß ich nicht sicher war, richtig gehört zu haben.
»Was hast du gesagt?«
»Ich hab gesagt, der ist süß«, wiederholte sie, deutlicher diesmal. »Schau dir nur mal dieses Gesicht an.« Sie breitete die Zeitung auf der Glasplatte des runden Küchentisches aus. »Den Mann heirate ich«, erklärte sie.
Ich blickte auf die Titelseite des Lokalteils. Drei Männer waren zu sehen: der Präsident der Vereinigten Staaten, der zu einem Gespräch mit Lokalpolitikern nach Florida gekommen war; ein katholischer Priester, der einer geplanten Demonstration von Schwulen und Lesben seine Unterstützung zugesichert hatte; und Colin Friendly, des Mordes an dreizehn Frauen angeklagt, der in einem Gerichtssaal in West Palm Beach saß. Ich wagte nicht zu fragen, welchen der drei sie meinte.
»Im Ernst«, sagte sie und tippte mit langem orangelackierten Fingernagel auf das Foto des Mordverdächtigen. »Schau dir nur mal das Gesicht an. Er hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Brad Pitt, findest du nicht?«
»Er sieht aus wie Ted Bundy«, entgegnete ich, obwohl ich gar
nicht erkennen konnte, wie er aussah. Ich hatte meine Lesebrille abgenommen, und die ganze Zeitung war nur ein verschwommenes Flimmern.
»Setz deine Brille auf«, befahl sie mir und schob mir die Brille mit den Halbgläsern zu. Die körnigen schwarzen und weißen Punkte der Fotografie fügten sich augenblicklich zu einem scharfen Bild zusammen. »Was siehst du?«
»Ich sehe einen kaltblütigen Killer«, sagte ich und wollte meine Brille wieder abnehmen. Doch sie hinderte mich daran.
»Wer sagt, daß er jemanden umgebracht hat?«
»Jo Lynn, liest du eigentlich die Zeitung oder siehst du dir nur die Bilder an?«
»Ich hab den Bericht gelesen, Frau Superschlau«, versetzte sie, und mit einem Schlag waren wir beide zehn Jahre alt, »und nirgends steht ein Wort davon, daß er ein Mörder ist.«
»Jo Lynn, er hat mindestens dreizehn Frauen getötet …«
»Er wird beschuldigt , sie getötet zu haben, aber das heißt noch lange nicht, daß er es auch getan hat. Ich meine, klär mich auf, wenn ich mich täusche, aber ist das nicht der Grund für den Prozeß?«
Ich wollte protestieren, überlegte es mir dann aber anders und sagte nichts.
»Und was ist mit ›unschuldig bis zum Beweis der Schuld‹, hm?« fuhr sie fort, wie ich es geahnt hatte. Mit Schweigen war bei Jo Lynn nie etwas auszurichten.
»Du hältst ihn also für unschuldig«, sagte ich, auf eine Technik zurückgreifend, die ich oft im Gespräch mit meinen Klienten anwende. Anstatt zu widersprechen, anstatt zu versuchen, sie umzustimmen, anstatt ihnen Antworten zu liefern, die vielleicht richtig sind, vielleicht aber auch nicht, wiederhole ich ihnen einfach ihre eigenen Worte, manchmal, indem ich sie positiver formuliere, um ihnen Zeit zu geben, die Antwort selbst zu finden, manchmal nur, um ihnen zu zeigen, daß ich sie gehört habe.
»Ich halte es auf jeden Fall für sehr gut möglich. Ich meine, schau dir doch nur mal dieses Gesicht an. Es ist schön.«
Widerstrebend betrachtete ich die Fotografie. Colin Friendly saß zwischen zwei Anwälten, zwei gesichtslosen Männern, die hinter seinem Rücken miteinander konferierten, und schaute leicht vorgebeugt mit leerem Blick in die Kamera. Ich sah einen Mann Anfang dreißig mit dunkelbraunem, welligem Haar, das ordentlich aus dem feingemeißelten Gesicht gekämmt war, einem Gesicht, das ich unter anderen Umständen vielleicht als gutaussehend bezeichnet hätte. Ich wußte, weil ich schon andere Bilder von ihm gesehen hatte, daß er über einen Meter achtzig groß war, schlank, beinahe drahtig. Seine Augen waren den Berichten zufolge blau, allerdings nie einfach blau, sondern immer durchdringend blau oder tiefblau, wenn auch die Fotografie dieses Tages nichts dergleichen offenbarte. Aber es fiel mir schwer, diesen Menschen objektiv zu sehen, selbst damals schon.
»Findest du ihn nicht toll?«
Ich
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