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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Entsprechend ließ sie sich mit ihrer Antwort einen Augenblick Zeit und legte sich alle Argumente noch einmal zurecht. »Nun«, erwiderte sie schließlich, »wenn Sagengestalten wie die Zyklopen oder der Golem reale Wurzeln haben, so wäre es doch denkbar, dass Geschichten wie die von Perseus oder jene von Orpheus in der Unterwelt ebenfalls auf historische Ereignisse zurückgehen. Auf Dinge, die sich tatsächlich zugetragen haben.«
    »Ist das Ihr Ernst?« Ein Hauch von Amüsiertheit war in den Zügen der Gräfin zu erkennen.
    »Lady Kincaid pflegt derlei Dinge grundsätzlich ernst zu meinen«, stellte Hingis klar. Noch vor zwei Jahren hätte er vermutlich lauthals losgelacht, aber die Begegnung mit Gardiner Kincaid hatte ihn gelehrt, dass keine Frage zu kühn war, als dass ein wacher Geist sie nicht stellen durfte, und dass es sich stets lohnte, den Ausführungen von Gardiners Tochter aufmerksam zu lauschen …
    »Und ob es mir ernst damit ist«, bekräftigte Sarah. »Was, wenn es all diese Rettungen aus dem Totenreich tatsächlich gegeben hat? Wenn sie sich in Wahrheit nur ein wenig anders zugetragen haben?«
    »Inwiefern?«
    »Es könnte doch sein, dass all diese Menschen, die der Überlieferung nach aus der Unterwelt gerettet wurden, in Wahrheit nicht wirklich tot waren, sondern lediglich in eine Art Stasis verfallen … Jedenfalls in einen Zustand, den die Menschen der Antike nicht von dem eines Toten unterscheiden konnten.«
    »Sie meinen … in eine Art Scheintod?«
    »Koma, Scheintod, nennen Sie es, wie Sie wollen. Wichtig ist, was diese Menschen möglicherweise in diesen Zustand versetzt hat – und vor allem auch das, was sie wieder daraus erlöst hat.«
    »Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen.« Hingis nickte. »Das Wasser des Lebens. Und Sie vermuten, dass Kamal …«
    »Es eine Vermutung zu nennen wäre zu viel behauptet«, schränkte Sarah ein. »Es ist nur eine Hoffnung, an die ich mich klammere, ein schwacher Trost.«
    Hingis nickte, und seine glatte Stirn legte sich in Falten, während er angestrengt nachzudenken schien. »Wollen Sie meine ehrliche Meinung wissen?«, fragte er nach einer Weile.
    »Hätte ich Ihnen sonst davon erzählt?«
    »Nun gut.« Der Schweizer Gelehrte straffte sich, und für einen kurzen Moment nahmen seine Züge wieder jenen oberlehrerhaften Ausdruck an, dessentwegen ihn Sarah früher so verabscheut hatte. Inzwischen wusste sie, dass Hingis ihn nur benutzte, um seine Unsicherheit zu überspielen. »Glauben Sie mir, liebe Freundin, ich habe mich daran gewöhnt, in Ihrer Begleitung allerhand seltsame Dinge zu erfahren. Dass ich jemals in die Nähe des Alexandergrabes gelangen würde, hätte ich niemals auch nur zu träumen gewagt, dennoch ist es wahr geworden. Nun allerdings plagen mich ernste Zweifel. Was geschehen ist – und damit meine ich nicht nur das, was dem armen Kamal widerfahren ist, sondern auch das, was sich gestern Nacht zugetragen hat – ist fraglos ein wenig zu viel für Sie gewesen, und so ist es kein Wunder, dass Sie allenthalben nach Hinweisen suchen, die Ihren Geliebten retten und ihn ins Reich der Lebenden zurückholen könnten.«
    »Ich verstehe«, sagte Sarah leise und senkte den Blick, während sie sich gleichzeitig selbst eine Närrin schalt. Wie hatte sie erwarten können, dass jemand ihre abenteuerlichen Theorien auch nur im Ansatz teilte? Vielleicht hatte Hingis ja Recht, und ihr Wunsch, Kamal zu retten, überwog bei weitem jede Vernunft …
    »Allerdings«, unterbrach der Schweizer ihren Gedankengang, »kenne ich außer Ihnen niemanden, der unter dem Eindruck all dieser Ereignisse in der Lage wäre, auch nur annähernd so brillante Überlegungen anzustellen.«
    »Was?« Sarah blickte auf. Auch die Gräfin Czerny schien überrascht.
    »Wer weiß?«, fragte Hingis achselzuckend. »Vielleicht haben Sie ja Recht. Möglicherweise ist jenen Gestalten, die wir aus der mythischen Überlieferung kennen, tatsächlich ein ähnliches Schicksal widerfahren wie dem armen Kamal. Vielleicht wurde Ihnen ein Gift verabreicht, das sie in einen totenähnlichen Zustand versetzt hat, bis eine Art Antidot sie wieder ins Leben zurückgeholt hat.«
    »Genau das meine ich«, stimmte Sarah zu. »Die Ärzte haben mir bestätigt, dass es möglicherweise auch für Kamal ein Gegenmittel gibt. Allerdings konnten sie mir nicht sagen, aus welchen Ingredienzen es zu bestehen hätte oder wo es zu finden wäre.«
    »In Griechenland«, folgerte die Gräfin Czerny.
    »Es wäre immerhin

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