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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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lateinischer Klassiker ebenso wie deren moderne Reflexionen; vertieften sich in mittelalterliche Mystik, alchimistische Anleitungen und philosophische Denkschriften, die alle um dasselbe Thema kreisten: die alles beherrschende Frage, wie sich der Mensch die Schöpfung zu eigen machen, wie er ihre Geheimnisse enträtseln und selbst zum Herrn über Leben und Tod werden könnte.
    Sarah hatte sich nie zuvor mit dieser Materie befasst; umso überraschter war sie darüber, den Grundgedanken in zahllosen Werken des Abend- wie des Morgenlandes manifestiert zu sehen. Ob im sumerischen Epos von Gilgamesch, in der griechischen Sagenwelt oder im mittelalterlichen Heldenlied; ob in der homerischen Odyssee oder den Ovidschen Metamorphosen; ob nun im Golem der jüdischen Überlieferung oder in der christlichen Gralslegende; ob in ägyptischen Totenbüchern oder in den Regularien, die alchimistische Quacksalber im 16. Jahrhundert verfasst hatten: Der Gedanke, das Mysterium des Daseins zu enträtseln und sich, sei es durch Magie, Technik oder göttliche Hilfe, zum Herren der Schöpfung aufzuschwingen, schien in allen Kulturen manifestiert zu sein. So sehr sich die einzelnen Werke im Detail voneinander unterscheiden mochten – ihnen allen war derselbe alte Menschheitstraum zu eigen: das Ende des Lebens nicht mehr als gegeben hinnehmen zu müssen.
    Unsterblichkeit lautete das eine Schlagwort, das, wenngleich unausgesprochen, als ebenso verheißungsvolles wie anmaßendes Echo durch die Texte geisterte; Genesis, also die Kraft, aus Leblosigkeit Leben zu schaffen, das andere. Und hin und wieder wurde auch das Mittel genannt, das all dies bewerkstelligen sollte.
    Hydor bíou.
    Aqua vitae.
    L’eau de la vie.
    Water of life.
    Die Bezeichnungen in den verschiedenen Sprachen mochten unterschiedlich sein, gemeint war jedoch stets dasselbe.
    Das Wasser des Lebens …
    »Und Sie sind sicher«, wandte Friedrich Hingis ein, als sie zum ungezählten Mal ihre Lektüre unterbrachen, um sich über das Gelesene auszutauschen, »dass jenes wundersame Elixier tatsächlich existierte? Vielleicht haben alle diese Textstellen nur einen metaphorischen Gehalt, schließlich wird Wasser in fast allen Kulturen spirituelle, lebensspendende Bedeutung beigemessen.«
    »Richtig«, räumte Sarah ein, »und haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, weshalb das so ist?«
    »Nun, ich nehme an, weil ohne Wasser kein Leben existieren kann, nicht wahr? Weil es von grundlegender Bedeutung für das Leben auf diesem Planeten ist.«
    »Zugegeben«, räumte Sarah erneut ein. »Aber was, wenn sich noch eine andere, konkretere Wahrheit hinter all diesen Geschichten verbirgt? Der Mann, der mich diese Wissenschaft lehrte, pflegte zu behaupten, dass jeder Mythos einen realen Kern besitzt – und meinen bisherigen Erfahrungen gemäß hatte er damit nur zu Recht.«
    »Vom wem sprechen Sie?«, erkundigte sich die Gräfin Czerny. »Von Ihrem Vater?«
    Sarah nickte, und ein Schatten legte sich für einen Moment über ihr Gesicht. »Von meinem Vater«, bestätigte sie leise und konnte sich nicht dagegen wehren, dass für einen kurzen Moment nicht Gardiner Kincaids gütige, von schlohweißem Haar umrahmten Züge vor ihrem geistigen Auge auftauchten, sondern Mortimer Laydons hassverzerrte Fratze.
    »Sie meinen also …?«, holte Friedrich Hingis sie ins Hier und Jetzt zurück.
    »Ich bin überzeugt davon«, verbesserte ihn Sarah, »dass dieser reale Kern auch hier besteht. Dass er der Urgrund ist, auf dem all diese Texte wurzeln. Denken wir nur an die Zyklopen. Oder den Golem. In beiden Fällen haben wir es mit mythischen Gestalten zu tun, die, wie sich zeigte, sehr reale Entsprechungen haben.«
    »Nur zu wahr«, kam Hingis nicht umhin zuzugeben.
    »Nehmen wir an, Ihre Theorie wäre zutreffend«, meinte die Gräfin. »Wo wollen wir mit der Suche beginnen? Wie können wir das Wahre vom Unwahren trennen? Wie den wirklichen Kern von dem, was im Lauf der Jahrtausende ausgeschmückt und hinzugefügt wurde?«
    »In dieser mittelalterlichen Handschrift hier«, Sarah deutete auf einen alten Folianten, der aufgeschlagen vor ihr lag, »habe ich einen sehr interessanten Hinweis entdeckt. Es handelt sich um eine auf Latein verfasste Klosterchronik aus dem späten zwölften Jahrhundert.«
    »Wie sind Sie darauf gekommen, gerade dort zu suchen?«, fragte Hingis.
    Sarah lächelte. »In einer Abhandlung über mittelalterliche Alchimie und jüdische Kabbalistik habe ich einen Hinweis darauf entdeckt.

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