Am Ufer Des Styx
Glücklicherweise befindet sich eine Abschrift dieser Chronik im Besitz der Bibliothek. Die Mönche des Klosters, in dem das Original verfasst wurde, waren dafür bekannt, geheime Wissenschaften zu betreiben. Nicht von ungefähr wurde ihnen im Zuge der Inquisition der Prozess gemacht. Der Konvent wurde geschlossen, und nicht wenige Mönche endeten auf dem Scheiterhaufen.«
»Und die Chronik überstand all diese Wirren?«, fragte die Gräfin ungläubig.
»In der Tat. Allerdings wurde jeder Hinweis auf die Lokalität des Klosters mit akribischer Sorgfalt gelöscht, sodass wir heute nicht mehr wissen, wo sich dieser Konvent befunden hat. Einige vermuten ihn in Böhmen, was erklären würde, weshalb das Klementinum eine Abschrift der Chronik besitzt, andere in Norditalien.«
»Hm«, machte Hingis. »Und was genau haben Sie nun herausgefunden?«
»Ein Mönch mit Namen Athanasius hat im Jahr 1191 eine Reise ins ferne Griechenland unternommen, angeblich, um die byzantinischen Glaubensbrüder in den Klöstern des Nordostens zu besuchen. Die Chronik äußert jedoch den Verdacht, dass jener Mönch mit einer geheimen Mission betraut war, die zum Ziel hatte, materiae mirandae zu beschaffen …«
»Wundersame Grundstoffe«, übersetzte Hingis, »zweifellos zum Herstellen alchimistischer Mixturen.«
»Das denke ich auch«, stimmte Sarah zu.
»Dennoch ist es nur ein vager Hinweis«, wandte die Gräfin Czerny ein. »Worin besteht der Zusammenhang zum ›Wasser des Lebens‹?«
»Von Rabbi Oppenheim wissen wir, dass das Wasser von jüdischen Kaufleuten aus Athen nach Westeuropa gebracht wurde«, erläuterte Sarah. »Zudem findet es in der griechischen Mythologie mehrfach Erwähnung. Der antike Held Herakles beispielsweise soll durch mit Zauberkraft behaftetes Wasser zu Tode gekommen sein.«
»Zu Tode«, echote die Gräfin. »Wie passt das zusammen?«
»Vergessen wir nicht, dass es laut dem Rabbiner zwei Elixiere gibt – eines, das Leben schenkt, und ein anderes, das es nimmt«, erklärte Sarah. »Auch der gute Ptolemaios wusste davon ein Liedchen zu singen.«
»Wo Sie gerade davon sprechen«, hakte Hingis ein. »Ich habe versucht, andere Belege für die angebliche Vergiftung Ptolemaios II. zu finden. Es gibt keine. Kein anderer Geschichtsschreiber als jener Josephos berichtet von diesem Vorfall.«
»Weil er als Einziger dabei zugegen war«, erwiderte Sarah.
»Aber warum hat er seine Informationen dann nicht anderen Schreibern zugänglich gemacht, so wie es damals üblich war?«
»Vielleicht, weil er es nicht wollte?«, hielt Sarah dagegen. »Laut Rabbiner Oppenheim hat sich Josephos selbst auf die Suche nach dem Wasser des Lebens begeben – und es angeblich auch gefunden.«
»Wo?«, wollte die Gräfin wissen.
»Angeblich in Griechenland. Jedenfalls gelangte es von dort in westliche Breiten. Und wir erinnern uns, dass auch Alexander das Lebenswasser einst gesucht hat, um seinen zu Tode verwundeten Vater Philip zu retten.«
»Und?«, fragte Hingis.
»Das antike Pella, die einstige Hauptstadt Makedoniens, wo Alexander seine Kindheit und Jugend verbrachte, ist nur rund achtzig Meilen von den Klöstern entfernt, die der Mönch Athanasius auf seiner Geheimmission besuchte.«
»Zufall?«, fragte die Gräfin.
»Zu viele Zufälle für meinen Geschmack«, erwiderte Sarah. »Der Sage nach stammte das Wasser, mit dem Herakles vergiftet wurde, aus dem Acheron.«
»Dem Acheron?«
»Die griechische Unterwelt wurde der Sage nach von fünf Flüssen durchzogen: Acheron, Lethe, Kokytos und Phlegethon, die wiederum alle in den fünften Fluss mündeten, den Styx. Wer starb, wurde am Ufer des Acheron zurückgelassen, und Charon, dem Fährmann der Toten, übergeben, auf dass er ihn ans andere Ufer übersetze. Sterblichen war für gewöhnlich der Zutritt zur Unterwelt verwehrt. Einige Helden wie Odysseus, Orpheus oder Perseus haben es dennoch gewagt und sind wohlbehalten zurückgekehrt.«
»Womit wir wieder bei den Sagen wären«, folgerte Hingis. »Der Kreis der Argumentation hat sich geschlossen, leider ohne dass wir ihn anhand nachprüfbarer Fakten auf ein solides Fundament hätten stellen können. Was wir haben, sind nur Vermutungen.«
»Bislang«, räumte Sarah ein. »Aber was, wenn sich auch hinter diesen Sagen ein wahrer Kern verbirgt?«
»Wie darf ich das verstehen, liebe Freundin?«
Der zweifelnde Ton in Friedrich Hingis’ Stimme blieb Sarah nicht verborgen, ebenso wenig wie der skeptische Blick der Gräfin Czerny.
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