Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer

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Hünen zu antworten, schleuderte sie ihm das Behältnis entgegen, geradewegs ins Dunkel der Kapuze.
    Die Schwerthand des Zyklopen zuckte empor, aber das Tintenfass war zu klein und aus zu kurzer Distanz geworfen, als dass er es hätte abwehren können. Es traf ihn mitten im Gesicht, wo es seinen schwarzen Inhalt verspritzte.
    Der Zyklop gab einen wütenden Laut von sich, als ihm Tinte ins Auge spritzte und ihm für einen Augenblick die Sicht nahm – einen Augenblick, den Sarah für sich nutzte. Ohne auch nur eine Sekunde zu verlieren, sprang sie seitlich auf das bereits fertig zurechtgemachte Bett, und mit zwei, drei großen Schritten war sie an dem Hünen vorbei, der mit der Klinge blindlings um sich hieb. Die Sichel verfehlte sie um Haaresbreite – im nächsten Moment war Sarah an ihrem Häscher vorbei und stand wieder auf dem Gang.
    »Warte, du …!«
    Rascher, als ihr lieb sein konnte, hatte der Zyklop seine Sehfähigkeit zurückgewonnen. Wutschnaubend warf er sich herum und nahm die Verfolgung auf, dabei ziellos um sich dreschend. Die Jalousien auf der einen und die Gobelins auf der anderen Seite des Ganges schlitzte er dabei auf.
    Sarah blieb nur die Flucht. Hals über Kopf rannte sie in Fahrtrichtung durch den schmalen Korridor. Es blieb keine Zeit, an eine der Türen zu klopfen und ihre Reisegefährten zu alarmieren. Lauthals wollte sie um Hilfe schreien, aber nicht mehr als ein heiseres Krächzen entrang sich ihrer Kehle, als wäre dies nicht die Wirklichkeit, sondern ein entsetzlicher Albtraum, der sie quälte.
    Sie hörte die stampfenden Schritte ihres Verfolgers, der ihr wutschnaubend auf den Fersen blieb, gesenkten Hauptes wie ein wilder Stier, während purer Hass aus seinem einen Auge schlug – und er kam rasch näher!
    An der Damentoilette vorbei erreichte Sarah das Ende des Waggons und die metallene, mit einem Glasfenster versehene Tür. Panisch rüttelte sie daran, ohne dass ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt gewesen wären. Erst als sie die Verriegelung löste, ließ sich der Durchgang öffnen – und das keinen Augenblick zu früh.
    Sarah hörte das hässliche Sirren in ihrem Nacken und duckte sich instinktiv. Sie konnte den kalten Atem der Klinge spüren, die sie nur um Haaresbreite verfehlte, die Glasscheibe traf und klirrend zu Bruch gehen ließ.
    Rasiermesserscharfe Splitter regneten auf Sarah herab, während sie in gebückter Haltung nach draußen huschte und sich auf der Wagenplattform wiederfand. Wind zerrte plötzlich an ihr, und eisige Kälte schlug ihr entgegen, die Luft war von Ruß und Rauch erfüllt. Gleichzeitig schwoll das Rattern der Räder, das drinnen nur gedämpft zu hören gewesen war, zu infernalischem Getöse an.
    Ein hüfthohes Eisengeländer umgab die Plattform, die an den benachbarten Schlafwagen grenzte. Rasch zog sich Sarah daran auf die Beine und wollte über die Verriegelung hinwegsetzen, um sich auf den nächsten Wagen zu flüchten – als dessen Tür plötzlich von innen geöffnet wurde.
    Durch das Glas erheischte Sarah einen Blick auf eine riesige, mit einem dunklen Kapuzenmantel bekleidete Gestalt, die im nächsten Augenblick auf die freie Plattform trat. Da sie die Kapuze zurückgeschlagen hatte, konnte Sarah das Antlitz des Hünen sehen. Ein gellender Schrei entrang sich ihrer Kehle – denn das Gesicht mit dem einen Auge war von Brandwunden entstellt.
    Der Zyklop aus Prag!
    Er hatte überlebt und war zurückgekehrt …
    Eine zweite Sichel tauchte auf, die im fahlen Mondlicht glänzte. Sarah, der jede Möglichkeit zur Flucht genommen schien, blieb nicht einmal mehr die Zeit, die Augen zu schließen. Dem Blatt einer Guillotine gleich fiel die Klinge auf sie herab – doch sie erreichte Sarah nie. Stattdessen gab es ein metallisches Geräusch und grelle Funken stoben durch die Nacht – und Sarah begriff, dass der Entstellte ihr soeben das Leben gerettet hatte.
    Denn während sie über das Auftauchen des zweiten Zyklopen noch entsetzt gewesen war, hatte ihr ursprünglicher Verfolger zu ihr aufgeschlossen und sie mit einem einzigen Schwertstreich töten wollen – was ihm fraglos auch gelungen wäre, hätte der andere Einäugige den mörderischen Hieb nicht mit der eigenen Waffe geblockt.
    »Rasch, nach oben!«, zischte er Sarah zu und deutete auf die Stufen, die an der Außenseite eines der beiden Stahlpfosten emporführten, welche die Überdachung der Plattform trugen.
    Sarahs Zögern währte nur einen Augenblick. Dann gehorchte sie, und indem sie sich