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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Waffen aufeinander trafen, jeder Hieb mit derartiger Wucht geführt, dass er einen gewöhnlichen Sterblichen zu Boden geschmettert hätte. Die beiden Einäugigen jedoch schienen sich weder in ihrer Körperkraft noch in ihrem Kampfgeschick nachzustehen. Gelang es einem, dem anderen einen Vorteil abzutrotzen, so schlug das Kampfglück schon im nächsten Moment wieder um. Mit wuchtigen Hieben drangen die Kontrahenten aufeinander ein, die sich beide ihrer Umhänge entledigt hatten, um dem Fahrtwind weniger Widerstand zu bieten. Dadurch sah Sarah erstmals, was sie unter ihren Kutten trugen: aus Lederplatten zusammengefügte Rüstungen, die nicht weniger archaisch wirkten als die Waffen, mit denen sie fochten.
    Zwei hünenhafte Schatten, umgeben von tiefer Schwärze und beißendem Rauch, den das blaue Mondlicht gespenstisch leuchten ließ, trugen einen Kampf aus, der vor Tausenden von Jahren seinen Anfang genommen haben mochte – und der vor Sarahs Augen sein dramatisches Ende zu finden drohte, als ihr Beschützer einem Hieb auswich und dadurch das Gleichgewicht verlor.
    Ein entsetzter Schrei entfuhr Sarahs Kehle, als sie sah, wie der andere sich nach vorn warf, um die Blöße seines Gegners schonungslos zu nutzen und ihm die Klinge in die für einen Augenblick ungeschützte Seite zu stoßen. Sarah wollte aufspringen, um ihrem Retter zur Hilfe zu eilen, aber die Ereignisse überschlugen sich.
    Denn noch während der Angreifer zur letzten, tödlichen Attacke ausholte, wirbelte der andere Kämpfer, scheinbar allen Gesetzen der Schwerkraft trotzend, herum. Den Verlust seines Gleichgewichts hatte er nur vorgetäuscht, um seinen Kontrahenten zum Ausfall zu zwingen. Jetzt ging er zur Gegenattacke über.
    Der erste Hieb traf die Handgelenke des Zyklopen und durchtrennte sie scheinbar mühelos. Die Waffe wehte im Fahrtwind davon, während der Hüne auf die blutigen Stümpfe an seinen Armen starrte. Zeit, darüber entsetzt zu sein, blieb ihm jedoch nicht, denn erbarmungslos zuckte die Sichelklinge seines Gegners ein zweites Mal heran.
    Von Entsetzen geschüttelt, sah Sarah, wie zuerst das Haupt des Zyklopen davonflog und sein kopfloser Torso dann zur Seite kippte, vom Dach rutschte und irgendwo in der Dunkelheit verschwand. Der Sieger des Duells blieb noch einen Augenblick stehen, beließ die blutige Klinge in der Position, in der sie dem Gegner den tödlichen Streich versetzt hatte, dann erst steckte er sie in die gebogene Scheide, die an seinem Gürtel hing, und gesellte sich wieder zu Sarah.
    »Geht es Ihnen gut?«, erkundigte er sich.
    Sarah nickte. Was hätte sie auch erwidern sollen? Sie war am Leben, allerdings hatte sich das Abendbrot entschieden, wieder den Weg durch die Speiseröhre anzutreten. Auf dem Wagendach kauernd, konnte sie nicht anders, als sich zu übergeben, so sehr hatte sie aufgebracht, was sie gesehen hatte. Dann nahm sie die Hand, die sich ihr helfend entgegenstreckte, und folgte ihrem hünenhaften Retter zurück zur Leiter, die sie mit zitternden Knien hinabstieg.
    »Sie … haben mir das Leben gerettet!«, rief sie gegen das Rattern der Räder an, als sie endlich wieder in der Lage war zu sprechen.
    »Ich habe Ihnen gesagt, dass ich auf Ihrer Seite stehe, oder?«
    »Aber ich war es, die Ihnen dies angetan hat«, erwiderte sie, auf die schrecklichen Narben in seinem Gesicht deutend.
    »Und haben Sie erkannt, dass dies ein Irrtum war?«, erkundigte sich der Hüne schwer atmend.
    »Allerdings …«
    »Mehr wollte ich nicht«, erklärte er schlicht.
    »Und jener andere Zyklop …?«
    »Ein Verblendeter«, sagte der Einäugige nur. »Aber nicht alle von uns dienen der Finsternis. Einige achten die alten Gesetze, doch sie müssen auf der Hut sein.«
    »Die alten Gesetze? Ich verstehe nicht …«
    »Das werden Sie, denn Sie wissen das alles. Sie haben es nur vergessen.«
    »Vergessen? Wie …?«
    Sarah kam nicht dazu, ihre Frage zu Ende zu formulieren – denn in diesem Augenblick war ein peitschender Knall zu hören, und etwas zischte heiß und schwer an ihr vorbei, um Funken sprühend gegen die Wand des angrenzenden Wagens zu schlagen und als kreischender Querschläger zu enden.
    Eine Kugel!
    Erschrocken fuhr Sarah herum, denn der Schuss war aus dem Inneren des Waggons gekommen. »Nicht schießen!«, schrie sie gegen die eisige Kälte und den Fahrtwind und breitete die Arme aus, um sich nun ihrerseits schützend vor ihren Retter zu stellen – der jedoch schon einen Herzschlag später nicht mehr da war.
    Aus

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