Am Ufer Des Styx
anderen eine Heiterkeit um sich greift, die mir kaum erträglich scheint.
Während ich abwechselnd an Kamals Lager wache und die Karten studiere, dringt das ausgelassene Gelächter der anderen Fahrgäste an mein Ohr, begleitet vom aufdringlichen Gefiedel einer Musikantengruppe, die kurz nach der Grenze den Zug bestiegen hat. Ich höre sie klatschen und singen und wünschte mir nur, teilhaben zu können an ihrer ausgelassenen Fröhlichkeit ( …)
Inzwischen ist es nach Mitternacht. Im Licht zahlloser Fackeln und Laternen haben Gleisarbeiter bis spät in die Nacht an der Beseitigung der Schäden gearbeitet, deren Ursache nach wie vor unbekannt ist. Einige Reisende munkeln etwas von einem geplanten Überfall, aber ich vermute, dass derlei Theorien mehr dem Alkohol geschuldet sind denn tatsächlichen Befürchtungen.
Endlich ist es still geworden. Die ungarischen Musikanten haben den Zug verlassen, und infolge der Zecherei, die den ganzen Nachmittag und den Abend über angedauert und der sich mancher Gentleman und nicht wenige vornehme Damen angeschlossen haben, sind die Passagiere früher zu Bett gegangen. Jene Ruhe, die ich tagsüber schmerzlich vermisst habe, ist endlich eingekehrt.
O RIENT -E XPRESS
N ACHT ZUM 15. O KTOBER 1884
Mit einiger Zufriedenheit setzte Sarah Kincaid einen Punkt hinter das letzte Wort, das sie geschrieben hatte, ehe auch sie sich erhob, um sich zu Bett zu begeben. Der Schlafwagendiener, dessen Aufgabe es war, die Liegebetten aufzuklappen und die Jalousien zu schließen sowie frische Handtücher zu besorgen, war längst hier gewesen, sodass das Abteil zu einer komfortablen Schlafkammer umgewandelt war.
Auf der Bettkante sitzend, hatte Sarah den Abend damit verbracht, Bücher zu wälzen und Landkarten zu studieren, um so das hässliche Gefühl, wertvolle Zeit zu vergeuden, zumindest ansatzweise zu kompensieren. Das Kartenmaterial, das ihr zur Verfügung stand, war allerdings mehr als spärlich; obschon in Europa gelegen, galt der Balkan nach wie vor als weitgehend unergründetes, in mancher Hinsicht gar unzivilisiertes Land, in dem die Gewalt und die Gesetzlosigkeit gediehen und blutige Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Banden oder auch zwischen Rebellen und türkischen Besatzern an der Tagesordnung waren. Zwar war die an Griechenland grenzende Provinz Sancak Tirhala vor drei Jahren aus dem osmanischen Reichsbund gelöst und dem Königreich angegliedert worden, jedoch galt das raue Gebirgsland noch immer als unbefriedet. Banden von Gesetzlosen, die sich als Freiheitskämpfer tarnten, zogen nach dem Zusammenbruch der osmanischen Ordnung marodierend umher, und die türkische Seite schien sich mit dem Wegfall der Gebiete nicht arrangieren zu wollen. Immer wieder kam es von beiden Seiten der Grenze zu Übergriffen, gab es Gerüchte über eine neuerliche osmanische Invasion. Jener Landstrich, der vom Fluss Acheron durchzogen wurde, lag genau inmitten jenes unsicheren und noch immer umkämpften Gebiets.
Sarah war überzeugt davon, dass es in den Archiven des Sultanats von Konstantinopel zuverlässigeres und aktuelleres Kartenmaterial gab, aber weder hatte sie die Zeit noch die nötigen Verbindungen, um sich dieses zu verschaffen. Wohl oder übel würde sie sich auf das Wagnis einlassen müssen, auch wenn sie sich dabei auf unbekanntes Terrain begab. Umso wichtiger war es, einen ortskundigen Führer zu haben, der die Gegend und ihre Eigenheiten kannte. Sarah hatte ein Schreiben aufgesetzt, das sie von Budapest aus nach Saloniki telegraphieren wollte, damit Führer, Träger sowie Reit- und Lasttiere bereitstanden, wenn sie dort eintrafen.
Soweit sich das sagen ließ, war alles vorbereitet. Wie jeden Abend wollte Sarah noch nach Kamal sehen, ehe sie sich zu Bett begab – womöglich war es ihre letzte Gelegenheit, ausgiebig Schlaf zu bekommen, ehe sie den Zug in Budapest verließen.
Sie erhob sich von der Bettkante und legte ihr Tagebuch beiseite. Durch die schmale Tür trat sie hinaus auf den Gang, der spärlich beleuchtet war und erfüllt vom immergleichen Rattern der Räder, die über die Gleise rollten. Der Gang war menschenleer. Die anderen Mitglieder der Reisegesellschaft hatten sich im Hinblick auf die womöglich anstrengenden Tage, die vor ihnen lagen, wohl längst zur Ruhe begeben.
Gerade wollte Sarah Kamals Kabine aufsuchen, als aus der entgegengesetzten Richtung ein heiseres Schnauben drang. Sarah wandte sich um. Das Geräusch war eindeutig aus der Herrentoilette
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