Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer

Vom Netzwerk:

den Augenwinkeln nahm Sarah eine Bewegung wahr, eine dunkle Gestalt, die seitlich von der Waggonplattform sprang und in der Dunkelheit verschwand. Zurück blieb nur der Umhang des Hünen. Sarah blickte auf, und durch die Reste des geborstenen Glases, die im Türrahmen steckten, sah sie eine in helles Beige gekleidete Frau, die eine noch rauchende Derringer-Pistole in ihrer Rechten hielt.
    Die Gräfin Czerny …
    10.
    Durch die beschädigte Tür gelangte Sarah zurück in den Waggon, am ganzen Körper zitternd, nicht nur der Kälte wegen, sondern auch unter dem Eindruck der dramatischen Ereignisse.
    Das Gesicht der Gräfin, die noch immer mit erhobener Waffe auf dem Korridor stand, verriet keinerlei Regung. In ihren grünen Augen jedoch sah Sarah etwas blitzen, das ihr nicht gefallen wollte.
    »Sind Sie wohlauf?«, erkundigte sich Ludmilla.
    »I-ich denke ja.« Sarah nickte und bedachte die Taschenpistole mit einem staunenden Blick. »Ich wusste nicht, dass …«
    »Dass ich eine Waffe bei mir trage? Dass ich in der Lage bin, mich zu verteidigen?« Die Gräfin lachte freudlos auf. »Bedauernswerterweise ist dies eine der Lektionen, die ich schon sehr früh in meinem Leben lernen musste.«
    »Genau wie ich«, stimmte Sarah zu. »Dennoch wäre es in diesem Fall nicht nötig gewesen einzugreifen.«
    »Wie darf ich das verstehen? Dieser einäugige Unhold hat Sie bedroht, oder etwa nicht?«
    »Durchaus nicht«, wehrte Sarah ab. »Er hat mir das Leben gerettet, nachdem einer seiner Artgenossen mich überfallen und angegriffen hat.«
    »Wie ist das möglich?«
    »Das weiß ich nicht.« Sarah, deren Kleid und Gesicht von Ruß geschwärzt waren, schüttelte den Kopf. »Ich nehme an, dass beide heute Nachmittag während des Zwangsaufenthalts an Bord des Zuges gekommen sind. Vermutlich haben sie sich in den Gepäckwagen versteckt.«
    »Vermutlich«, bestätigte die Gräfin und ließ den Derringer zögernd sinken. »Und was wollte der Zyklop von Ihnen?«
    »Den Codicubus«, antwortete Sarah rundheraus.
    »Und hat er ihn bekommen?«
    »Nein.«
    »Natürlich nicht.« Die Gräfin nickte. »Etwas, das sich im Besitz Alexanders des Großen befand, gibt man nicht so einfach aus den Händen, richtig?«
    »Richtig«, stimmte Sarah zu, und eine Pause eisigen Schweigens trat ein, in der sich die beiden Frauen gegenseitig taxierten und hinter die Fassade zu blicken suchten, die die jeweils andere um sich errichtet hatte.
    »Wie bedauerlich«, sagte Sarah.
    »Was ist bedauerlich?«
    »Nach allem, was ich über Sie erfahren hatte, hatte ich gehofft, dass wir tatsächlich Freundinnen werden könnten. Dass wir tatsächlich so etwas wie Schwestern im Geiste wären …«
    »Und?«
    »Daraus wird nun wohl nichts werden«, stellte Sarah ernüchtert fest, »denn eines weiß ich ganz sicher: Dass ich Ihnen gegenüber nie erwähnt habe, in wessen Besitz sich der Codicubus einst befand.«
    »Und das bedeutet?«
    »Sie haben sich verraten«, konstatierte Sarah, ohne mit der Wimper zu zucken. »Das und nichts weniger bedeutet es.«
    »Erstaunlich«, entgegnete Ludmilla von Czerny, während sie mit einer beiläufig wirkenden Bewegung die Pistole wieder in den Anschlag nahm. Erst einer der beiden Läufe hatte seine Ladung ausgespuckt, der andere war vermutlich schussbereit geladen …
    »Was ist erstaunlich?«, fragte Sarah. »Dass ich endlich die Wahrheit erkenne?«
    »Nein«, konterte die Gräfin, über deren blasse Gesichtszüge sich ein triumphierendes Grinsen legte, »dass Sie so lange dazu gebraucht haben. Man hatte mir gesagt, Sie wären überaus klug – aber unter einem begabten Verstand stelle ich mir etwas anderes vor.«
    »Ihre Sache«, knurrte Sarah.
    »Nachdem wir also unsere Provenienzen geklärt haben und nunmehr mit offenen Karten spielen können, würde ich meine Frage von vorhin gerne präzisieren – und ich würde Ihnen raten, mir wahrheitsgetreu zu antworten. Also: Wo ist der Codicubus?«
    »Das weiß ich nicht«, behauptete Sarah.
    »Was soll das heißen?«
    »Er befindet sich nicht in meinem Besitz, und deshalb weiß ich auch nicht, wo er sich befindet.«
    »Sie sind eine Lügnerin. Sie selbst haben gesagt, dass der Abtrünnige Ihnen das Artefakt gegeben hat …«
    Der Abtrünnige, echote es in Sarahs Kopf. Also hatte der Zyklop die Wahrheit gesagt …
    »Das hat er«, räumte sie ein, »aber es war mir nicht möglich, den Würfel zu öffnen, also habe ich ihn zurückgegeben.«
    »Zurückgegeben? An wen?«
    Nun war es Sarah, die