Am Ufer Des Styx
war ihr anzusehen, wie wenig sie diese Wendung begrüßte, gleichzeitig schien ihr der Revolver in Hingis’ rechter Hand jedoch einigen Respekt einzuflößen.
»Schön«, sagte sie schließlich und gab sich Mühe, dabei so würdevoll wie möglich zu wirken. »Sie gewinnen.«
Sie bückte sich und legte die Waffe vor sich auf den Boden.
»Treten Sie zurück«, verlangte Hingis, worauf Sarah sich sofort zu ihr gesellte und den Derringer an sich nahm.
»Wie bist du darauf gekommen?«, wollte die Gräfin wissen, als sie nun gleich in zwei schussbereite Mündungen blickte.
»Wollen Sie das wirklich wissen?«
»Natürlich.« Sie hatte ihre Fassung zurückgewonnen, und ein überlegenes Lächeln spielte um ihre Züge. »Es interessiert mich, einen Einblick in die Gedanken meiner geschätzten Schwester zu erhalten.«
Sarah fand die Bemerkung ebenso unpassend wie anmaßend, überging sie jedoch geflissentlich. »Der Ring«, sagte sie, auf Ludmillas Hand deutend, wo der Siegelring ihres verstorbenen Ehemannes steckte. »Es fiel mir einigermaßen schwer zu glauben, dass eine so starke und selbstbewusste Frau wie Sie Wert auf solchen Tand legen sollte. Und beinahe noch unglaublicher kam es mir vor, dass Sie nichts von seiner Bedeutung wissen wollten, wo Sie mir doch kurz zuvor versicherten, dass Sie sich wie ich dem Studium der Vergangenheit verschrieben hätten und dass die ägyptische Geschichte Ihr besonderes Steckenpferd sei.«
»Ist das so?«, fragte die Gräfin ruhig. »Und wenn du dich nun irrst?«
»Wollen Sie behaupten, Sie wüssten nicht, dass dies das Emblem der ›Ägyptischen Liga‹ ist? Einer Gruppierung, die inzwischen verboten wurde, weil ihr erklärtes Ziel darin bestand, zunächst das britische Königshaus und später auch das Parlament zu entmachten und sich selbst an die Spitze des Empire zu stellen?«
»Mein Mann ist Mitglied vieler akademischer Vereinigungen gewesen«, konterte die Gräfin. »Das ist kein Beweis.«
»Da mir klar war, dass Sie etwas Derartiges behaupten würden«, fuhr Sarah fort, »habe ich darauf verzichtet, Sie mit diesen Vorwürfen zu konfrontieren. Stattdessen habe ich Nachforschungen anstellen lassen, Ihren verstorbenen Gatten betreffend.«
»An dieser Stelle«, übernahm Hingis, »komme ich wohl ins Spiel. Lady Kincaid beauftragte mich, einige Erkundigungen einzuholen.«
»Worüber?«, fragte die Gräfin.
»Über die Bedingungen, unter denen der bemitleidenswerte Graf von Czerny aus dem Leben geschieden ist«, entgegnete der Schweizer trocken. »Bedauerlicherweise war es mir zunächst nicht möglich, entsprechende Hinweise zu finden. Jemand hatte sich sehr viel Mühe gegeben, alle betreffenden Unterlagen verschwinden zu lassen. Dann gelang es mir jedoch, den Arzt ausfindig zu machen, der die Todesurkunde ausgestellt hatte, einen gewissen Dr. Svoboda, und ich fand heraus, dass er dem Absinth in wesentlich beträchtlicherem Umfange zugeneigt ist als dem Stabe des Äskulap.«
»Und?«, fragte die Gräfin, deren Augen sich zu schmalen Schlitzen verengt hatten. Sie schien zu ahnen, was folgen würde.
»Nachdem ich ihn auf einige Gläschen eingeladen hatte, begann der gute Doktor zu plaudern – mehr als für ihn und für andere gut ist, nehme ich an. So sagte er mir, dass es dem Grafen von Czerny bis zum Tage vor seinem Tod an nichts gefehlt und er sich im Gegenteil bester Gesundheit erfreut hätte und dass sein Ableben äußerst überraschend eingetroffen wäre. All das hätte meinen Argwohn vielleicht noch nicht erregt, aber als Svoboda mir dann noch berichtete, dass er eine Obduzierung ansetzen wollte, die allerdings von Ihnen persönlich verhindert worden sei, da wurde mir klar, dass Sie etwas zu verbergen haben, Gnädigste.«
»Von diesem Moment an«, sagte Sarah leise, »ahnte ich die Wahrheit – obgleich ich noch immer hoffte, mich zu irren. Ich wünschte es mir von Herzen, da ich glaubte, in Ihnen eine Verbündete, eine Gesinnungsgenossin gefunden zu haben, vielleicht sogar eine Freundin. Aber diese Hoffnung hat sich zerschlagen.«
»Du … du hast mir also etwas vorgespielt?«, erkundigte sich Ludmilla von Czerny und konnte ihre Verblüffung nicht länger verbergen. »Die ganze Zeit über?«
»Die ganze Zeit«, bestätigte Sarah. »Niemand außer Dr. Hingis wusste etwas davon, nicht einmal meinem Tagebuch habe ich die Wahrheit anvertraut, aus Furcht, es könnte gelesen werden und mich verraten.«
»Aber … warum?«
»Was wäre die Alternative gewesen?«,
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