Am Ufer Des Styx
Kamal all das absichtlich angetan …«
»Und nun? Wollen Sie mich erschießen?« Amüsiert blickte der Arzt auf die Waffen, die sie alle in ihren Händen hielten. »Wir können natürlich abdrücken und ein Massaker anrichten, was in Anbetracht der Lage allerdings ziemlich unsinnig wäre. Oder wir benehmen uns wie zivilisierte Menschen und erkennen an, dass eine Pattsituation entstanden ist – wenngleich die Vorteile nun wieder auf Seiten der Gräfin liegen dürften.«
»Vielen Dank, Doktor.« Ludmilla von Czerny nickte. »Also, wie steht es, Schwester? Willst du ein Blutbad anrichten und deinen Kamal dem sicheren Tod überantworten? Oder wirst du dich weiter an die Regeln des Spiels halten?«
In Sarahs Innerem tobte ein Konflikt.
Ein Teil von ihr, der in hellem Zorn entbrannt war, hätte am liebsten abgedrückt, um Cranston für seine Heuchelei und Grausamkeit und die Gräfin für ihre Intrigen zu bestrafen. Ihre Vernunft hielt sie jedoch zurück, denn es wäre ein ebenso sinnloses wie selbstmörderisches Unterfangen gewesen. Ihr eigenes Schicksal war ihr gleichgültig, aber dessen eingedenk, was der alte Gardiner sie gelehrt hatte, ermahnte sie sich, dass sie auch Verantwortung für andere trug. Für Friedrich Hingis, den Freund, der sie bis hierher begleitet und in unverbrüchlicher Treue zu ihr gestanden hatte; und natürlich für Kamal, dessen Ende besiegelt war, wenn sie jetzt ihrer Wut und ihrer Aggression freien Lauf ließ.
Der Widerstreit, den Sarah in ihrem Inneren austrug, währte nur wenige Augenblicke. Dann ließ sie resignierend den Derringer sinken. Hingis tat es ihr gleich, und auch Cranston ließ den Armeerevolver wieder verschwinden.
»Gräme dich nicht«, beschied die Gräfin ihr mit einiger Häme, »du trägst selbst Schuld daran. Hättest du dich der Bruderschaft unterworfen, als Zeit dazu war …«
»Niemals«, zischte Sarah.
»Dann musst du bereit sein, die Folgen zu tragen – genau wie der gute Gardiner.«
»Hören Sie auf, seinen Namen im Munde zu führen«, blaffte Sarah. »Was wissen Sie schon von ihm?«
»Genug, um zu verstehen, dass er ein Narr gewesen ist. Statt uns zu folgen und dem Einen Auge zu Macht und Ansehen zu verhelfen, hat er sich entschlossen, sich gegen uns zu stellen.«
»Ein weiser Entschluss«, meinte Sarah überzeugt.
»Allerdings einer, der ihn das Leben kostete und nahezu alles auslöschte, was von ihm auf dieser Welt geblieben ist.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Gestatte, dass ich dir etwas zeige«, sagte die Gräfin und nickte Cranston zu, der daraufhin etwas aus seiner Kabine holte und es Sarah reichte. Es waren die verkohlten Überreste eines Buchs.
Der lederne Einband war verbrannt, das Papier an allen drei Seiten geschwärzt. Sarah, die nicht wusste, was sie damit anfangen sollte, schlug das Buch auf. Das trockene Papier knirschte, das verbrannte Leder brach, und der bittere Odem kalten Rauchs stieg von den Seiten auf, die lediglich zum Rücken hin noch weiß und leserlich waren. Unwillentlich überflog Sarah einige Zeilen – und erstarrte.
Sie kannte dieses Buch, ebenso wie sie den Mann gekannt hatte, der es geschrieben hatte …
»›Die vergessenen Bibliotheken Assyriens‹«, nannte sie den Titel des so übel zugerichteten Werks.
»So ist es«, stimmte Ludmilla von Czerny zu, »verfasst von keinem anderen als Gardiner Kincaid persönlich. Angeblich gibt es kaum eine Universitätsbibliothek, in der das Buch nicht zu finden ist. Gleichwohl handelt es sich bei diesem hier um ein besonderes Exemplar, wie du fraglos feststellen kannst …«
Einen Augenblick lang wusste Sarah mit diesem Hinweis nichts anzufangen – dann überkam sie eine schreckliche Vermutung.
Mit Händen, die schlagartig zu zittern begannen, schlug sie die ersten Seiten des Buchs auf, suchte mit fliegenden Blicken nach etwas, das sie im nächsten Moment zu ihrem größten Entsetzen tatsächlich fand. Es war der Stempel des Familiensiegels der Kincaids, was nicht mehr und nicht weniger bedeutete, als dass dieses fast völlig zerstörte Buch der Bibliothek von Kincaid Manor entstammte …
»Nein«, sagte Sarah leise. »Das ist nicht wahr …«
»Kincaid Manor existiert nicht mehr«, verkündete die Gräfin mit eisiger Kälte. »Alles, was noch übrig ist, sind schwelende Mauerreste.«
Das Bild des heimatlichen Anwesens tauchte vor Sarahs geistigem Auge auf, wie es zerstört in Trümmern lag – dennoch galt ihr erster Gedanke nicht dem materiellen Besitz.
»Was ist
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