Am Ufer Des Styx
so elend und leer gefühlt zu haben wie in diesen Tagen.
Alles haben sie mir genommen.
Meinen Vater, und das gleich in zweifacher Hinsicht – nicht nur, indem sie Gardiner Kincaid das Leben nahmen, sondern auch, indem sie jene hässlichen Zweifel in mein Herz säten, die in ihm nicht den liebevollen Vater, sondern den dreisten Lügner sehen wollen.
Meinen Besitz, indem sie Kincaid Manor zerstören ließen – und mit ihm alles, was sich innerhalb seiner Mauern befand.
Meine Arbeit, denn ohne den Wissensschatz der Kincaidschen Bibliothek sehe ich mich außerstande, meine archäologischen Forschungen fortzusetzen.
Und schließlich auch meinen Geliebten …
Was ich in meinem Innersten empfinde, lässt sich mit Gefühlen wie Trauer und Schmerz nicht beschreiben. Es ist eine Leere, so abgrundtief und schrecklich, dass mir davor graut. Alles scheint sinnlos geworden zu sein, jeder Grund zum Leben wurde mir genommen. Meine Niederlage ist vollkommen, während meine Feinde triumphieren, und immerzu frage ich mich, wie es nur so weit kommen konnte.
Zu Beginn glaubte ich, alles zu kontrollieren, betrog mich mit dem Gedanken, mich der Gegenseite ebenso skrupellos und geschickt bedienen zu können, wie sie es zuvor mit mir getan hatte – nur um mir jetzt ernüchtert einzugestehen, dass ich mir etwas vorgemacht habe. Ich habe mit dem Feuer gespielt und wider besseres Wissen gehandelt, habe die Warnungen derer überhört, die es gut mit mir meinten – und bezahle nun den Preis dafür …
M ETEORA
N ACHT ZUM 11. N OVEMBER 1884
Ihr Gefängnis war dunkel, kalt und zugig.
Zur Blütezeit des Klosters war das kleine, von einer Kuppel gekrönte Gebäude, das sich nach Westen hin an das Refektorium anschloss, eine kleine Kapelle gewesen, die dem Schutzpatron des Konvents gewidmet war und wo kleine Andachten abgehalten worden waren. Diese Zeit lag lange zurück.
Alle Wertgegenstände waren aus der Kapelle entfernt worden, die Fresken an Apsis und Kuppel zerstört, ebenso wie die hohen Fenster, die notdürftig mit kreuz und quer vernagelten Holzdielen verschlossen worden waren. Die teils fingerbreiten Fugen zwischen den Brettern ließen ein wenig Sonnenlicht hindurch, sodass die Kammer bei Tage spärlich beleuchtet war; die Ritzen hatten allerdings den Nachteil, dass der Wind hindurchpfiff und Sarahs Gefängnis des Nachts in ein eisiges Verlies verwandelte. Die Arme um die angezogenen Beine geschlungen, kauerte sie auf dem Boden und fror erbärmlich. Die Übelkeit hatte sich im Verlauf der vergangenen drei Tage nicht gelegt, sondern im Gegenteil noch zugenommen. Sarah fühlte sich matt und ausgezehrt, an Schlaf war in Anbetracht der Kälte und des heulenden Windes nicht zu denken, während nebenan, nicht weit entfernt, ihre Feindin ihren Geliebten umgarnte. Sarahs einziger Trost war es, dass Kamal wohlauf und am Leben war. Lieber wusste sie ihn in den Armen einer anderen Frau, als mit anzusehen zu müssen, wie er krank darniederlag, dem Tode nah. Insofern – und darin lag die Ironie der zurückliegenden Ereignisse – war die Suche nach der Quelle des Lebens am Ende doch von Erfolg gekrönt gewesen.
Aber zu welchem Preis!
Abwechselnd tauchten die Gesichter von Perikles und Friedrich Hingis vor Sarah auf, die beide ihr Leben gelassen hatten auf der Suche nach jenem letzten, großen Geheimnis … das sich nun in der Hand des Gegners befand. Einmal mehr hatte Sarah verloren, und ihre Feinde triumphierten.
War dies ihr Schicksal …?
Sarah fieberte dem Sonnenaufgang entgegen. Dem Kalendarium ihres Reisetagebuchs zufolge war es Sankt Martini, der Tag des Schutzpatrons all jener, die sich in karger Enthaltsamkeit übten.
Wie passend, dachte Sarah bitter – als ein gellender Schrei die Stille der späten Nacht zerriss. Ein Schrei, so voller Schmerz und Todespein, dass er wie ein Messer in Sarahs Eingeweide fuhr.
Erschrocken sprang sie auf und eilte zur Tür der Kapelle, die von außen verriegelt war. Der Schrei wiederholte sich, noch lauter diesmal, und Sarah glaubte zu wissen, aus wessen Kehle er stammte.
»Polyphemos …?«
Abermals ein Schrei, die sich überschlagende Stimme von jemandem, der unbeschreibliche Qualen litt – und Sarah war überzeugt davon, dass es der Zyklop war. Offenbar hatte ihn die Strafe ereilt, die Ludmilla von Czerny ihm angedroht hatte und die ihn für seinen Verrat zur Rechenschaft ziehen sollte …
Nach Sarahs Schätzung war es gegen drei Uhr morgens. Was die Gräfin dazu bewog, ihn
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