Am Ufer Des Styx
ja, wo wir uns hier befinden.«
»In einem Sanatorium in Griechenland«, gab Kamal wieder, was man ihm gesagt hatte – überprüfen konnte er es nicht.
»Genauso ist es. Und ich versichere dir, dass Dr. Cranston alles unternehmen wird, um dich zu heilen und dir deine Erinnerung zurückzugeben.«
»Ich weiß.« Er nickte. »Aber warum darf ich dieses Zimmer nicht verlassen?«
»Weil es für dich noch zu verwirrend wäre«, sagte sie und kam mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. »Verzeih meine Vorsicht, Geliebter, aber Dr. Cranston sagt, es wäre nicht gut für dich, zu rasch zu viel zu erfahren. Immerhin warst du noch vor wenigen Tagen sehr krank.«
»Aber ich fühle mich gut«, beharrte Kamal, dessen stolze, fast edel zu nennende Gesichtszüge wieder Farbe gewonnen hatten. Sein Haar war frisch geschnitten, sein Bart getrimmt und gepflegt.
»Ich weiß«, sagte sie, während sie die Verschnürung ihres besudelten Kleides löste und es langsam an sich herabgleiten ließ, den Ansatz ihrer Brüste und ihre Schenkel entblößend, die wie aus weißem Alabaster geformt schienen. »Zum Glück gibt es Dinge, die wir auch innerhalb dieses Zimmers tun können – vorausgesetzt natürlich, du fühlst dich stark genug dazu.«
»W-wovon sprichst du, Sarah?«
»Keine Sorge, Geliebter«, versicherte sie, während sie ihre schlanken Arme um seinen Hals legte und ihn langsam an sich heranzog, einem Kraken gleich, der seine Beute fängt, »ich werde dir alles zeigen …«
13.
R EISETAGEBUCH S ARAH K INCAID
Ich habe keine Gnade zu erwarten.
Was mit Polyphemos geschehen ist, hat mir unwiderruflich klargemacht, dass meine Feinde weder Gnade noch Nachsicht kennen und dass sie dieses Mal nicht zögern werden, auch mich zu beseitigen. Ohnehin weiß ich nicht, warum sie mich bislang geschont haben.
Ich verbringe die Zeit mit Nachdenken und im stillen Gebet, versuche die Dinge zu ordnen, die mir durch den Kopf gehen, auch wenn sie im Grunde unbedeutend geworden sind.
Was meinte Polyphemos, als er sagte, ich wäre Inanna? Und wer ist Tammuz, den ich suchen und befreien soll?
Und noch eine Frage beschäftigt mich, auch wenn sie in dieser dunklen Stunde jede Relevanz verloren hat: Wer war der Mann, den ich von Herzen liebte und den ich meinen Vater nannte, tatsächlich?
Die Gräfin von Czerny sagte, dass Gardiner Kincaid so wenig mein Vater gewesen sei wie Kamal ihr Geliebter, und während sowohl mein Herz als auch mein Verstand dies erbittert bestreiten, scheint es tief verborgen einen Teil in mir zu geben, der nicht widerspricht, wohl weil er die Wahrheit kennt.
Meine Erinnerung …
Noch immer liegt sie hinter dichtem Nebel verborgen, und ich hege keine Hoffnung mehr, dass sich die Schleier jemals lichten werden. Auf meine Fragen bekomme ich keine Antwort, und zum ersten Mal in meinem Leben bezweifle ich ernstlich, dass ich sie finden werde – während mich gleichzeitig klamme Furcht beschleicht.
Die Angst davor, dass wahr sein könnte, was Mortimer Laydon mir in seinem Wahn sagte, nämlich dass nicht Gardiner Kincaid, sondern er mein leiblicher Vater wäre.
Der hässliche Verdacht, dass Kamal Unrecht haben könnte mit dem, was er mir immer zu sagen versuchte, nämlich dass alles auf Erden einem höheren Plan unterworfen sei.
Und schließlich die schreckliche Gewissheit, dass der neue Tag der letzte sein wird, den ich auf Erden sehe.
Mit diesem Eintrag schließe ich mein Reisetagebuch ab.
Möge es demjenigen, der es findet, eine Warnung sein, die Geheimnisse der Vergangenheit nicht anzutasten – denn einige von ihnen reichen bis in die Gegenwart …
M ETEORA
11. N OVEMBER 1884
Als sich nach endlos scheinenden Stunden des Bangens und Wartens der neue Tag ankündigte, nahm Sarah Kincaid es fast mit Erleichterung zur Kenntnis. Scheiben fahlen Morgenlichts fielen durch die Ritzen der verschlossenen Fenster und blendeten sie, und ihr war klar, dass der Tag der Entscheidung gekommen war. Als sich diesmal Schritte näherten, war sie gelassener als in der Nacht zuvor. Der Quell ihrer Tränen war längst versiegt und sie blickte dem, was sie erwarten mochte, gefasst entgegen.
Vorbereitet war sie jedoch nicht.
Im Gebet hatte sie versucht, Vergebung zu erlangen, und in endlosen Gedankengängen hatte sie nach Antworten gesucht. Gefunden hatte sie weder das eine noch das andere, sodass sie das Gefühl hatte, dass ihr Lebenswerk unvollkommen und stümperhaft geblieben war. Was sie gewesen war – oder vielmehr zu sein glaubte
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