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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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ausgerechnet jetzt zu drangsalieren, vermochte Sarah nicht zu sagen. Oder dauerte die Folter in Wahrheit schon die ganze Nacht an? Gab der Zyklop erst jetzt dem Schmerz nach und brüllte seine Qualen und seine Pein laut hinaus?
    Ein neuerlicher Schrei zerfetzte die Stille, gefolgt von derbem Gelächter – und Sarah hielt es nicht mehr aus.
    »Aufhören!«, blaffte sie und schlug mit den aneinander gefesselten Fäusten gegen die Tür ihres Gefängnisses. »Sofort aufhören!«
    Ihre Rufe verhallten ungehört, dafür war ein weiterer Schrei zu vernehmen, der diesmal gar nicht enden wollte. Ihren Lebensretter in solcher Todespein brüllen zu hören und sich dabei noch vorzustellen, dass sie der Grund dafür war, war zu viel für Sarah. Es widersprach allem, was der alte Gardiner ihr über die Fürsorge und die Pflicht ihren Nächsten gegenüber beigebracht hatte.
    »Nein!«, schrie sie außer sich und hämmerte abermals gegen die Tür. »Lasst ihn gefälligst in Ruhe! Hört ihr nicht? Ihr sollt ihn in Ruhe lassen, ihr gemeinen Kerle …!«
    Ihre Hiebe gegen die Tür wurden schwächer, ihre Kräfte ermatteten genau wie ihre Stimme. Erschöpft sank sie am rauen Holz der Tür herab und kauerte leise schluchzend auf dem Boden.
    Erst nach einer Weile fiel ihr auf, dass die Schreie ausgesetzt hatten und eisiger Stille gewichen waren, in der man nur noch das Heulen des Windes hörte.
    Polyphemos war verstummt …
    Sarah, die sich vorstellen konnte, was dies zu bedeuten hatte, fühlte Wut und Trauer zu gleichen Teilen. Mit aller Kraft hieb sie noch einmal gegen die Tür, als träfe das alte Holz alle Schuld an dem, was geschehen war – als von draußen plötzlich Schritte zu hören waren, die sich knirschend näherten.
    Sarah wich von der Tür zurück, als sie hörte, wie der Riegel zurückgezogen wurde. Knarrend schwang das Blatt auf, und helles Mondlicht fiel in die alte Kapelle, das die Silhouetten zweier vermummter und mit Revolvern bewaffneter Kämpfer umrahmte.
    »Mitkommen«, befahl einer von ihnen. Sarah erhob sich und wurde nach draußen geführt, in der festen Überzeugung, dass sie die Nächste wäre, die ein grausames Schicksal ereilte.
    Über den von Mondlicht beschienenen Innenhof wurde sie zu einem gestreckten Gebäude geleitet, in dem früher ebenfalls Mönchszellen untergebracht gewesen waren. Ein langer Korridor mit Türen auf beiden Seiten erstreckte sich darin. Eine der Türen stand offen, der gelbe Schein einer Gaslaterne fiel auf den Gang.
    »Dort hinein«, wies einer von Sarahs Bewachern sie an. Sarah näherte sich der offenen Kammer und trat ein. Was sie sah, war so entsetzlich, dass es ihr den Atem raubte!
    Das Erste, was sie erblickte, war Polyphemos – allerdings nicht aufrecht und stolz, wie sie ihn in Erinnerung hatte, sondern nackt bis auf einen Lendenschurz und kopfüber von der Decke baumelnd. An einer Kette, die um die Fußgelenke geschlungen war, hatte man ihn an einem der Deckenbalken aufgehängt, seine Arme hingen schlaff herab. Wie ein Pendel schwang er träge hin und her und drehte sich dabei, sodass Sarah die grässlichen Wunden sah, die man ihm zugefügt hatte. Sein muskulöser Körper war blutüberströmt, eine grellrote Lache hatte sich auf dem Boden gebildet.
    Dutzende winzig kleiner Klingen steckten in seinen Armen und Beinen, in Rücken und Oberkörper. Fraglos das Werk von jemandem, der über eine exakte Kenntnis der menschlichen Anatomie verfügte. Ein Arzt, der seinen Eid verraten und zur Schande für seine Zunft geworden war …
    Sarah verzog das Gesicht vor Abscheu, als sie Cranston in der Ecke stehen sah, ein ganzes Arsenal an Folterwerkzeugen vor sich ausgebreitet. Die Gräfin von Czerny stand neben ihm. Blutspritzer verunzierten ihr Seidenkleid, was sie nicht zu stören schien.
    »Er wollte dich sehen, Kincaid«, sagte sie nur, und Sarah wandte sich wieder Polyphemos zu, der, wie sie jetzt feststellte, tatsächlich noch am Leben war, wenn auch dem Tode nahe. Das eine Auge öffnete sich und sandte ihr einen Mitleid erregenden Blick, der ihr fast das Herz zerriss.
    »Verzeih, Inanna«, flüsterte der Zyklop kaum hörbar. »Ich habe geschworen, dich zu beschützen …«
    »Das hast du«, versicherte Sarah. »Das hast du getan.«
    Er schüttelte den Kopf »Habe versagt … aber nichts verraten, hörst du? Habe ihnen … nichts gesagt.«
    Seine Gesichtszüge verkrampften sich, und seine Stimme wurde brüchig. Die Qualen, die er litt, mussten grässlich sein …
    »Ich

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