Am Ufer Des Styx
verstehe«, sagte Sarah, obwohl sie in Wahrheit keine Ahnung hatte, wovon der Zyklop sprach. Vielleicht hatte die Todespein auch seine Sinne verwirrt und er delirierte …
»Tammuz«, stieß er keuchend hervor. »Du musst ihn suchen, hörst du? Du musst ihn befreien …«
Das letzte Wort ging in ein tonloses Keuchen über. Der Blick des einen Auges, der unverwandt auf Sarah gerichtet gewesen war, wurde starr und trübte sich.
»Polyphemos?«
Der Mund des Zyklopen war offen, aber keine Antwort kam mehr über seine Lippen.
Er war tot.
Sarah schloss ihm das eine Auge und verbrachte einen Moment in stiller Andacht. Trauer überkam sie, aber sie war nicht in der Lage, auch nur eine Träne zu vergießen. Zu groß war ihr Zorn, zu beherrschend ihr Verlangen danach, den Tod des Freundes zu rächen …
»Keine Sorge«, versicherte Ludmilla von Czerny großmütig, »du wirst ihm schon sehr bald folgen.«
»Schlange!«, blaffte Sarah, »elende Natter! Wie hatte ich nur annehmen können, dass wir uns ähnlich wären?«
»Weil wir uns ähnlich sind. Du und ich, Schwester, wir sind zwei Seiten derselben Münze, ob es dir gefällt oder nicht.«
»Das ist nicht wahr«, widersprach Sarah mit zornbebender Stimme. »Ich bin kein bisschen wie Sie, denn ich würde mich niemals mit widerwärtigen Speichelleckern umgeben, die bereit sind, ihre Ideale für Geld zu verraten.«
»Das galt dann wohl mir«, meinte Cranston achselzuckend, auf den leblosen Körper des Zyklopen deutend. »Dabei erfordert es kaum weniger Sachverstand, einen Menschen zu foltern, als ihn zu heilen, das können Sie mir glauben.«
»Sind Sie etwa auch noch stolz auf das, was Sie getan haben?«
»Nun«, begann der Arzt, »gewissermaßen …«
Sarah verlor die Beherrschung.
Jäh sprang sie vor, ihre gefesselten Fäuste wie einen Hammer schwingend, und wollte sich auf Cranston stürzen – zwei Schergen waren jedoch zur Stelle und fingen sie ab, und obwohl Sarah wild um sich schlug und sich nach Kräften wehrte, hatte sie gegen die rohe Muskelkraft der beiden Männer keine Chance.
»Wo ist er?«, fragte die Gräfin unvermittelt.
»Wovon sprechen Sie?«, fragte Sarah verwirrt.
»Was soll die törichte Frage? Vom Codicubus natürlich«, antwortete sie unwirsch.
Sarah nickte. »Also das war es, was Sie von Polyphemos wollten. Sie haben ihn zu Tode gefoltert, eines alten Artefakts wegen. Aber er hat Ihnen nicht verraten, wo es zu finden ist, richtig? Er hat der Folter bis zuletzt widerstanden.«
»Das hat er – und dabei sein Leben verloren. Es wäre äußerst unklug von dir, es ihm gleichzutun, also frage ich doch noch einmal: Wo ist der Codicubus?«
Aus der Art der Frage und der Tatsache, dass Ludmilla von Czerny erkennbar nervös war, folgerte Sarah, dass das Verschwinden des Codicubus – oder vielmehr seines Inhalts – einen herben Verlust für die Bruderschaft bedeuten musste. Was sich wohl darin befinden mochte …?
»Wollen Sie die Wahrheit wissen?«, fragte Sarah.
»Natürlich.«
»Ich weiß es nicht«, eröffnete Sarah schlicht.
»Du lügst.«
»Keineswegs«, konterte Sarah und hielt dem prüfenden Blick der Gräfin stand. »Aber selbst wenn es nicht so wäre und ich tatsächlich wüsste, wo sich der Codicubus befindet, so würde ich lieber sterben, als es Ihnen zu verraten.«
Ludmilla von Czerny starrte sie durchdringend an.
»Sei vorsichtig, was du dir wünschst, Schwester«, sagte sie dann, »es könnte schon bald in Erfüllung gehen.«
Sie wandte sich ab und befahl, Sarah abzuführen und in ihr Gefängnis zurückzubringen.
Die Audienz war beendet.
»I-ist alles in Ordnung?«
Kamal Ben Naras Tonfall war unsicher. Verwirrt starrte er auf die Blutspritzer, mit denen das Kleid der Frau übersät war.
»Natürlich«, antwortete sie, während sie das großzügige, von Kerzenschein beleuchtete Schlafgemach betrat, das ehedem für hohe Gäste reserviert gewesen war, die dem Kloster einen Besuch abstatteten. »Was soll schon sein?«
Kamal hatte dennoch das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Anders als an den Tagen zuvor wirkte sie angespannt, ihre makellosen Züge waren zur Maske erstarrt. Ihr blondes Haar, das sie meist hochgesteckt trug, war in Unordnung geraten, sodass ihr einige Strähnen ins Gesicht fielen, dessen bleicher Teint sich auffallend gerötet hatte …
»Ich habe Schreie gehört«, sagte er. »Sie haben mich geweckt …«
»Nichts von Bedeutung.« Sie winkte ab. »Nur ein Patient, der unter Schmerzen leidet. Du weißt
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