Am Ufer (German Edition)
unbestimmte Geografie, die weiter im Entstehen begriffen ist, angehalten am Morgen des dritten Schöpfungstags, als wäre Entstehen etwas anderes als Zerstören: Derselbe Mechanismus, der den Sumpf hat entstehen lassen, sorgt für sein Verschwinden. Das, was ihn zeugt, verdammt ihn zum Vergehen. Wie auch immer, ein unbestimmter Raum, eine halbfertige Welt, zunehmend verschüttet von dem vielen Sand, den der Wellengang zurücklässt, von den Lehmanschwemmungen der Bäche, die mit den herbstlichen Regenfällen anschwellen; durch die Ablagerungen der Reste von Millionen von Pflanzen und Tieren: Fäulnis, das, was jetzt aktive Biomasse genannt wird; der Mensch gibt seinen Abfall hinzu. Wie Narben, entstanden durch sein eingreifendes Handeln, bleiben hie und da die Reste von allerlei Projekten liegen: Kanalisationen, die nicht vorankamen, mit deren Hilfe der gesamte Sumpf ausgetrocknet und in landwirtschaftliche Anbaufläche verwandelt werden sollte, Mauern, die als Dämme fungieren sollten und heute Ruinen sind, verrostete Rohre, die überwuchert sind, Reste von alten Becken, die nicht mehr gebraucht wurden oder nie gebraucht worden sind, Müll, Schrotthalden, verwüstete Dünen vom ständigen Einsatz der Hacken und Spaten und dann der eiligen Maschinen, die Hunderte von Tonnen Sand als Baumaterial abtransportierten; aber auch Dünen, die im Entstehen begriffen sind, an die sich heimische Pflanzenarten klammern, die wie Katzenkrallen aussehen und vielleicht auch so heißen. Die Torsi der Berge, an deren Fuß das Meer vor Jahrhunderten geleckt hat, zeigen sich wie ferne, aufgegebene Bühnenbilder oder Ruinen alter Gebäude. Vor mir, im Vordergrund, schwimmende Farbflecken, Pflanzenreste, die auf dem grünlichen Spiegel des Wassers schweben, leicht angetrieben vom Mistral;an einigen Stellen tauchen die Bergspitzen wie aus dem Nichts auf: Sie schweben über der Wasserebene, die diesseits des mit weißen Puscheln versehenen Riedgrases von Grünalgen und Seerosen vertuscht oder verschönert wird. Das Vorbeiziehen der Wolken, auf der Wasseroberfläche gespiegelt, schafft das Trugbild einer Welt, die in einer andauernden Reise vorbeizugleiten scheint und dennoch unbeweglich bleibt, fixiert auf einer alten Fotografie, und diese Farbe alter Fotos ist die des Röhrichts, das im Winter braun wird, matte Gelb- und Ockertöne, und ein Braun, das nachdunkelt, bis es mit dem Schwarz verschwimmt und Parzellen bildet, die nach Ruß aussehen, melancholische Gräber für Giganten.
3
EXODUS
»Werden wir den alten Zeiten nachweinen?«
Auf das zweite Frühstück um zehn Uhr morgens, mit Salat, Essiggemüse, Salzfisch (getrockneter Oktopus, Fregattenmakrele, Salz thunfisch und Thunfischrogen), kleinen Koteletts, Würsten, Wein und Bier, zum Abschluss noch Kaffee und – in meinem Fall – einem guten Cognac (nein, mir gibst du keinen Whisky wie den anderen, lieber einen Martell von der Flasche da, die du beiseitegestellt hast), folgt die Stammtischrunde, die sich bis zum Wermut ausdehnt (Wollen wir nicht mal aufstehen und die Beine am Tresen strecken? Ich bin schon ganz steif vom vielen Sitzen) und dann bis zur Paella (Scheiße, jetzt hat sich das Frühstück ganz schön hingezogen, wir sollten gleich hier essen, was meint ihr?), dem leicht suppigen Fischreis oder der Fideuà, die auf getragen wird, wenn die Uhr drei geschlagen hat. Um den Tisch sitzen Maurer, die zu Bauunternehmern geworden sind, und die Besitzer von prospe rierenden Geschäften – wie ich –, Glasereien, Klempnereien, Schreinereien, Möbelgeschäften, Depots für Baumaterialien, Geschäften für Farben, Transportunternehmen, dazu die Rentiers verschiedener Anlagefonds, ein harmonisches Beisammensein, alles nette Leute, über denen sich, während sie da essen, wie ein goldener Regen aus dem Einarmigen Banditen der Mehrwert ergießt, den jeder ihrer Angestellten im Laufe der Stunden hinter dem Ladentisch erarbeitet, jede Sekre tärin, die vor dem Bildschirm tippt, jeder Vogel – ob spanisch, peruanisch, marokkanisch, bulgarisch oder rumänisch –, der, auf einem Gerüst stehend, emsig Ziegel legt. Manche dieser fleißigen Stieglitze oder Nachtigallen produzieren nicht nur Geld, sondern singen auch noch Liedchen, die sie in ihrer Heimat gelernt haben oder beim Autofahren – hin zur Arbeit und wieder zurück – auf den
cuarenta principales
oder auf den neuerdings aufgetauchten Sendern für Migranten hören, die Vallenatos, Salsa und Merengue senden,oft den Freunden
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