Am Ufer (German Edition)
Augen schließt, beruhigt von dem Licht der Nachttischlampe, der wieder gleichmäßig atmet, weil die Frau neben ihm steht und bügelt, dazu singt,
Ay mi rocío
, kleiner Nelkenstrauß, sie hat eine sehr klare Stimme, fast eine Kinderstimme, du Rosenzweigleinmein, und alles ist Sicherheit, Gewissheit unter der Decke, Nestwärme, ich kann die Augen schließen, weil mich die Frau mit der Mädchenstimme beschützt, und vor mir öffnet sich eine Zukunft ohne Grenzen. Ich kann das werden, was ich will, und das erreichen, was ich wünsche. Für den Alten, der im Sumpf watet und diesen Druck auf der Brust spürt, der anwächst, sich ausdehnt, wie diese Kefir-Knöspchen, mit denen die Türken die Milch verarbeiten. Ich weise die Ängste des Alten ab, ich möchte bei den Erinnerungen sein, sie genießen, bevor sie verschwimmen: Meine Mutter kreuzt mir den Schal über der Brust, bevor ich aus dem Haus und zur Schule gehe. Ich sehe das durchsichtige Licht, dieses zerbrechliche, dünne Licht, ein Licht wie heute.
Und plötzlich ist es mein Vater, der an meiner Seite ist und darauf achtet, wie ich den Hobel auf dem Brett greife: Er nimmt meine Hand, um sie in die richtige Stellung zu bringen, das macht man nicht so, sagt er, und seine Hand drückt die meine mit der Kraft einer Zange, eine Werkzeughand, die sich in meine keilt, so wie sich seine barsche Stimme in mein Ohr keilt, doch von hinten erreicht mich die Stimme des Onkels, lass nur, ich zeig’s ihm, und sogleich spüre ich die Hand ummantelt von seinen breiten, warmen Händen, ein schrundiges Vogelnest. Harte und zugleich weiche Materie. Er hat mich nie angeschrien, und ich könnte an den Fingern einer Hand die Male abzählen, die er die Stimme über diesen ernsten, ruhi gen Ton, den er pflegte, erhob, auch mein Vater schrie mich nicht an, er hat mich nie geschlagen, aber da war diese kratzige Stimme, sie schien aus dem schlecht rasierten Bart zu dringen, mit dem er mich jedes Mal piekte, wenn ich mein Gesicht dem seinen näherte. Mein Vater. Morgen werde ich ihn aufs Klosett setzen, bis er gekotet hat, und dann werde ich ihn gründlich waschen. Sauberkeit muss sein, Vater. Ich möchte nicht, dass die Reise von solchen unangenehmen Begleitumständen wie Schmutz und schlechten Gerüchen beeinträchtigt wird. Wir gehen dorthin, wo der Onkel mir beigebracht hat zu angeln und aus der frischen, unterirdischen Quellezu trinken, der Ort, an dem ich eine Vorahnung von dem hatte, was wir wohl unser Leben lang gesucht haben. Nur schade, dass wir jetzt das Quellwasser verschmutzen müssen. Morgen: Ich ziehe die Gummihandschuhe an, um ihm die Windel abzunehmen, bevor ich die Dusche anstelle und ihm die Pyjamajacke ausziehe. Unvermeidlich stellt sich ein Gefühl des Anrüchigen ein, wenn ich mit meiner nackten Brust der seinen nahe komme. Ich setze ihn auf den Hocker, ich mühe mich mit seinen Pyjamahosen ab, ich hebe ihn an, öffne die Windel. Der Gestank macht sich im Badezimmer breit. Ich stecke die Windel in eine Plastiktüte, die ich verknote, bevor ich sie in den Mülleimer neben dem Waschbecken werfe. Ich lasse ihn gehen, halte ihn dabei an den Händen. Jetzt habe ich ihn vor mir, ich sehe seinen Rücken, sehe, wie er schwerfällig die Beine bewegt und die Füße unsicher auf den Duschuntersatz stellt. Der Dreck gleitet die Schenkel hinab, ich drücke auf seine Schultern, damit er sich zu mir hindreht, spreche dabei ständig auf ihn ein. Er sieht mich an, als wisse er, was ich zu ihm sage. Er klagt, stöhnt, schlägt mit den Händen um sich, reibt sich mit den Fäusten die Augen: vor mir die hagere Brust, hart wie ein Brett, die bläulich schrumpeligen Brustwarzen eines ausgelaugten Säugetiers, eine eingekerbte Tafel die Brust, allerdings von einem beunruhigend jugendlichen Weiß. Ich halte ihn in meinen Händen, ich greife seine Schulter, ich stütze ihn mit einer Hand ab, damit er nicht umfällt, und wische ihm mit dem Schwamm über das Gesicht, ich hebe sein Kinn an, sehe seine zwischen Runzeln eingesunkenen Augen, tupfe sie ab, die kleinen, gleichsam versteinerten Fettgeschwülste, ich reibe seine Brust, reibe sie übertrieben energisch, darin steckt etwas von meiner Wut oder Erschöpfung, weil ich das jetzt jeden Morgen habe machen müssen; ich sehe die spärliche Haarmatte vom Nabel abwärts, die bei der Scham dichter wird, weiße Haare, die sich sofort im Seifenschaum des Schwamms verlieren. Ich reibe dort, am Gehänge, schiebe mit zwei Fingern die Haut beiseite, um
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