Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ambient 04 - Terraplane

Ambient 04 - Terraplane

Titel: Ambient 04 - Terraplane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Womack
Vom Netzwerk:
bloß eine Art zu handeln, die Sie sich angewöhnt oder beigebracht haben, aber es ist keine Art, zu leben.«
    »Ich kenne keine andere«, sagte ich.
    »Dann hätten die Dinge nicht so geschehen sollen, wie sie geschahen«, sagte sie. »Vieles hätte nicht geschehen dürfen, wie es geschah.«
    »Luther«, kam Jakes rauhes Geflüster; ich wandte den Kopf, zu sehen, was benötigt wurde. Er hielt Oktobrjanas Arm, dessen Haut dunkel von Blutergüssen, glänzend und gespannt war; mit ihren Fingern streichelte sie die Luft. »Sie will morsen.«
    Ich nahm ihre Hand, fühlte ihre Finger langsam in meine Handfläche drücken und nahm ihre letzten Äußerungen auf.
    »Wenn sie aus dem Dämmerzustand erwacht«, sagte Wanda, kaum gehört, »dann ist es das Ende.«
    BLITZENTLADUNG NÜTZLICH, morste sie und bezog sich dabei, wie ich vermutete, auf Trylon und Perisphäre, sobald der Strom eingeschaltet wäre. WENN ÖFFNUNG ERSCHEINT SOFORT DURCHGEHEN.
    Jake tätschelte ihr die Stirn, schien weder entspannt noch nervös. Die Abenddämmerung breitete sich aus, ließ alles innen und außen dunkeln.
    SAGEN SIE JAKE, klopfte sie; ihre Finger zitterten, als ob sie fröre.
    »Ja?« sagte ich, hielt ihr die Hand in Erwartung des Endes.
    ER IST LIEBE DES LEBENS. Ich nickte. Sie öffnete die Augen, kaum erkennbar im schwindenden Licht. Nachträglicher Einfall: VERFLIXT.
    »Was ist vor sich gegangen?«
    Als ich es ihm gesagt hatte, hob er sie in seinen Armen auf den Schoß; ihr Kopf hing im Nacken, die Augen drehten sich hinter die Lider zurück, ein dünner Speichelfaden rann ihr aus dem Mund. Als ich die beiden sah, hatte ich das Gefühl, eine Szene tiefster Intimität zu verraten, doch konnte ich mich nicht vom Anblick der Sterbenden abwenden.
    »Ya ljuba …«, sagte er stockend, hielt inne. »Ya ljub …«
    Irgendwo hatte er gelernt, auf russisch ›Ich liebe dich‹ auszusprechen; er hatte, unnötig zu sagen, die Redewendung nicht gemeistert.
    »Ya«, fing er wieder an, langsamer diesmal. »Ya lj …«
    Bevor er das Wort ganz herausbrachte, klammerten ihre Arme sich um ihn, als wollten sie ihn umarmen; zogen sich krampfhaft fester. Mit Mühe befreite er sich aus ihrer Umschlingung. Oktobrjanas Gliedmaßen begannen sich umeinander zu winden, festzuziehen, während sie sich zusammenkrümmte. Mit der Kontraktion des Brustkorbs begann sie keuchend um Atem zu ringen, den Mund weit aufgerissen, bis er an den Mundwinkeln blutete; Blut drang ihr aus den Ohren und den Augen. Als ihre Arme und Beine unter der Muskelverkrampfung nachgaben, drang das Geräusch brechender Knochen laut durch den Wagen. Ihre Wirbelsäule wand sich unter dem Zug der Muskeln. Ihre keuchenden Atemzüge hörten sich an, als würde jeder einzelne mit Gewalt aus ihrer Lunge gepreßt.
    »Jake«, sagte ich, »du weißt, was erforderlich ist. Los!«
    »Ich kann nicht«, sagte er. Es hörte sich an, als wäre er nicht älter als sechs.
    »Die Vernunft gebietet es«, erinnerte ich ihn. Ihre Lippen zuckten, als bemühte sie sich, ihrer Qual Ausdruck zu geben; das Knirschen ihrer Knochen zerriß mir die Ohren. Ausstellungsbesucher strömten vorbei, ohne die Szene in unserem Wagen zu bemerken. »Hilf ihr, Jake. Du mußt!«
    Er konnte es nicht.
    »Heb sie auf, Jake! Hierher!«
    Er umfaßte sie, hob sie vom Sitz, schob sie nach vorn, daß ihre Schultern auf der Lehne des vorderen Sitzes ruhten. Er wandte sich weg. Oktobrjanas blutende Augen waren fest zugedrückt, um nicht das letzte zu sehen.
    »Luther, bitte!«
    »Es gibt keine Wahl, Jake«, sagte ich und hob die Hände. »Keine.«
    Ich legte die Hände um ihren Kopf und schloß selbst die Augen, als ich drehte. Sie war tot, bevor die Muskelverkrampfung ihres Körpers sich löste; meine Finger brannten vom Feuer der Barmherzigkeit. Jake starrte sie an, als sie schlaff auf dem Sitz zurückfiel, die Augen halb geöffnet. Aus der Richtung des Ausstellungsgeländes hörte ich ferne Hochrufe und Applaus. Wanda blickte von uns weg auf einen Parkplatz zu unserer Rechten, als hoffe sie jemand zu sehen, den sie kannte. Jake drückte Oktobrjanas Körper an sich, genauso stumm wie sie, ohne eine Träne.
    »Laß los, Jake!« sagte ich. »Es ist vorbei. Komm schon!«
    Statt einer Reaktion, zog er sich langsam hoch, starrte in ihr stilles Gesicht, streichelte und drückte sie, als könne er nicht begreifen, was verloren war. Seine Züge zeigten nicht mehr als sonst. Ich blickte zur Uhr am Armaturenbrett, und mir stockte der Atem; ich konnte das

Weitere Kostenlose Bücher