Amelia Peabody 13: Der Herr der Schweigenden
rücksichtsvoller …
Sie würde ihn überzeugen müssen, dass er wenigstens ihre Fußfesseln löste. Dann könnte sie die Knie anziehen, während er sich über sie beugte, ihm unters Kinn treten, in der Hoffnung, dass sie die Kraft besaß, ihn zu überwältigen, und dann zur Tür spurten. Hatte er diese absichtlich offen gelassen, um ihr die lockende Freiheit zu demonstrieren?
Ramses muss in Sicherheit sein, beruhigte sie sich. Ich spüre immer, wenn es nicht so ist. Das lähmende, unbegreifliche Entsetzen war eiskalter Vernunft gewichen, die ihr sagte, dass sie allen Grund zur Besorgnis habe. Er würde nicht ruhen, bis er sie gefunden hatte, und sie zweifelte nicht daran, dass ihm das auf irgendeine Weise gelingen würde. Aber was konnte er oder auch jeder andere bewerkstelligen?
Die hasserfüllte Stimme leierte weiter. Das Sonnenlicht verblasste. Es war Mittag oder später. Sie würde betteln müssen. Die Vorstellung war ihr zuwider, aber es musste sein, bald schon, bevor ihre Beine zu gefühllos waren, um zu funktionieren.
Dann vernahm sie den Hufschlag. Das also war der Grund, warum er die Tür offen gelassen hatte; der Syrer wollte das Risiko eines Überraschungsangriffs unbedingt vermeiden. Noch ehe sie seine Stimme hörte, wusste sie, wer es war. Er war allein gekommen – er hatte nicht einmal versucht, seine Anwesenheit zu verbergen. Wieder zerrte sie an ihren Handfesseln und der Syrer zog grinsend sein Messer.
Ramses verharrte auf der Schwelle, seine Beine leicht gespreizt, sein eigenes Messer locker in der gesenkten Hand. Als er sie gewahrte, nahm sein Gesicht wieder etwas Farbe an und er atmete tief aus.
»Mit mir ist alles in Ordnung«, sagte sie. Die Messerklinge des Syrers fühlte sich kalt an auf ihrer Haut.
»Ja.« Seine Lippen formten sich zu einem Lächeln.
»Marhaba, Bruder der Dämonen«, sagte Mubashir. »Tritt ein und lass dein Messer fallen, oder ich werde ihr das Gesicht aufschlitzen, bevor ich dich töte.«
Ramses betrachtete seine Waffe und warf sie achtlos weg. Ungefähr zwei Meter von ihm entfernt bohrte sie sich mit zuckender Klinge in den Boden. »Sind die Voraussetzungen jetzt mehr nach deinem Geschmack?«, erkundigte er sich. »Oder kämpfst du nur mit Frauen?«
Die arrogante Provokation zeigte die gewünschte Wirkung. Die Nasenflügel des Syrers bebten. Er sprang auf und machte einen Satz.
Später, als Nefret einem faszinierten Publikum diese Auseinandersetzung beschreiben wollte, fehlten ihr die Worte. Sie waren beide so schnell, der stämmige Syrer beinahe ebenso flink wie die größere und schlankere Statur ihres Mannes. Ramses bewegte sich mechanisch wie eine Maschine und geschmeidig wie eine Katze, er drehte und wand sich und kreiselte, sodass die lange Klinge ihn die meiste Zeit verfehlte oder nur oberflächliche Schrammen hinterließ. Er verteidigte sich mit Händen und Füßen, denn ein Angriff war unmöglich. Er wich zurück, manövrierte den massigeren Mann aber allmählich zwischen sich und Nefret. Beider Atem ging schnell, indes war Mubashir außer sich vor Zorn. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ein unbewaffneter Gegner Schwierigkeiten machen könnte. »Bleib stehen und kämpfe!«, brüllte er und setzte einen nicht druckreifen Fluch hinzu.
Ramses blieb auf der Stelle stehen. Beide Hände umschlossen das Handgelenk seines Gegenübers, hielten die Messerspitze auf Abstand. Für Augenblicke standen sie sich kampfbereit gegenüber. Dann eine kurze Bewegung, so schnell, dass sie diese nicht auszumachen vermochte; Ramses’ linke Hand lockerte die Umklammerung, er taumelte auf ein Knie und duckte den Kopf, um der vorschnellenden Faust des Syrers zu entgehen.
Da begriff Nefret, dass jede Bewegung, selbst die letzte, Teil eines vorsätzlichen und verzweifelten Plans war, so präzise aufeinander folgend wie die Schritte einer Tanzformation. Ramses’ freie Hand umschloss den Griff des Messers, das noch immer aufrecht und bereit stand, wie von ihm in den Boden gerammt. Er schwang seinen langen Arm auf und nieder und im Kreis, zu einer engen, tödlichen Umarmung, und die Klinge bohrte sich in Mubashirs Rücken, unterhalb des linken Schulterblatts. Die Verletzung war nicht lebensgefährlich, die Waffe nicht tief genug eingedrungen, um zu töten; der Syrer riss sich los, entwand sich Ramses’ Umklammerung, worauf Ramses aufsprang und mit der Faust ausholte. Die Klinge des Syrers schlitzte ihm den Ärmel von der Schulter bis zum Ellbogen auf, doch der Hieb landete
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