Amelia Peabody 16: Wächter des Himmels
Ramses das kantige Gesicht bekannt vor.
»Tarek hatte Recht«, bemerkte der Fremde. »Ihr seid ein Mann geworden.«
Wir haben des Öfteren illustre Gäste, aber einen so ungewöhnlichen jungen Mann wie den, der mit Ramses und Nefret im Salon saß, als ich zum Tee hinunterkam, hatte ich noch nie gesehen.
Barfuß, barhäuptig und lediglich mit einem kurzen Rock oder Kilt bekleidet, schien er geradewegs einem altägyptischen Grabfresko entstiegen. Unvermittelt blieb ich stehen, worauf Ramses erklärte: »Mutter, ich darf dir Prinz Merasen vorstellen. Er ist der Bruder von Tarek, an den du dich sicher noch erinnerst.«
Ich bin bestimmt nicht auf den Mund gefallen, aber in diesem Moment war ich sprachlos. Meiner Kehle entwich lediglich ein erstauntes Krächzen. Aufgeregt lief Nefret zu mir und fasste meinen Arm. »Tante Amelia, was hast du? Komm, setz dich erst mal hin.«
»Eine schöne heiße Tasse Tee«, würgte ich hervor, während ich ihn anstarrte. Der junge Mann hob die Hände auf Schulterhöhe und verbeugte sich. Es war die gleiche Geste wie auf zahllosen Grabgemälden, eine Respektsbezeugung vor den Göttern und höhergestellten Persönlichkeiten. Er kam mit der Situation weitaus besser zurecht als ich. Immerhin war er auf mich vorbereitet gewesen, ich aber beileibe nicht auf ihn!
»Wie wär’s mit einem schönen Whisky-Soda?«, schlug Ramses stattdessen vor. Er klang ein wenig schuldbewusst. »Verzeih mir, Mutter. Ich hätte dich besser vorgewarnt.«
»Aber nein«, erwiderte ich und nahm das mir angebotene Glas in Empfang. »Nehmt doch wieder Platz, Sir … ähm … Spricht er überhaupt englisch?«
»Ja, sehr gut«, lautete die kühle Antwort. »Deshalb hat Tarek mich geschickt.«
»Tarek hat Euch geschickt?«, wiederholte ich verdutzt.
»Ja, Sitt Hakim. Ich fühle mich geehrt, euch kennen zu lernen. Es kursieren etliche Geschichten über euch in der Heiligen Stadt. Und über den Vater der Flüche und den Bruder der Dämonen und die Lady Nefret.«
Sitt Hakim, »Frau Doktor«, war mein ägyptischer Beiname. Ramses verdankte seinen Spitznamen »Bruder der Dämonen« seinen vermeintlich übernatürlichen Fähigkeiten.
Ich nickte bekräftigend, nippte an meinem Whisky und versuchte, meine fünf Sinne wieder zusammenzubringen. Der junge Mann hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit seinem Bruder, mit seinen markanten Zügen und der sehnigen Statur. Er war schätzungsweise achtzehn Jahre alt und damit im gleichen Alter wie Tarek seinerzeit.
»Nett, Euch kennen zu lernen«, sagte ich höflich, wenn auch ein bisschen spröde – denn ich mutmaßte bereits, dass sein Auftauchen Ärger bedeutete. Tarek schickte bestimmt niemanden auf diese lange, strapaziöse Reise, nur um uns kurz Hallo zu sagen. »Ähm … Ramses, vielleicht kannst du unserem Gast etwas zum Anziehen leihen.«
»Ich habe Kleidung, englische Kleidung.« Der Junge deutete auf ein Bündel am Boden. »Ich ziehe sie an, ja?«
Das klang eher unschlüssig und wenig überzeugt. Da eine gute Hausfrau die kleinen Eigenheiten ihrer Gäste berücksichtigen sollte, schüttelte ich lächelnd den Kopf. »Nur wenn Ihr möchtet. Es ist immerhin sehr heiß heute.«
Nefret, die mir sichtlich ungeduldig schien, platzte unvermittelt heraus: »Tante Amelia, vielleicht kannst du Merasen dazu bringen, dass er uns endlich erzählt, wieso er hier ist. Er hat die lange, beschwerliche Reise doch bestimmt nicht gemacht, um uns kennen zu lernen.«
»Das war exakt mein Gedanke«, bekräftigte ich. »Er hat sich weder dir noch Ramses anvertraut?«
»Nein, er war anderweitig mit Ramses beschäftigt«, versetzte Nefret spitz.
Der Fremde grinste gewinnend. »Tarek beteuerte, Ramses sei jetzt ein Mann geworden. Und ich wollte wissen, ob das stimmt.«
»Das wisst Ihr ja jetzt«, sagte Ramses knapp.
Die offene Feindseligkeit und der arrogante Ton waren so ungewöhnlich für meinen Sohn, dass ich ihn verblüfft anstarrte. Merasen grinste weiterhin freundlich.
»Und sie« – eine angedeutete Verbeugung in Richtung Nefret – »sie ist noch schöner, als Tarek sie beschrieb. Sie ist aber nicht Eure Frau?«
Ramses’ Miene erstarrte zusehends. Nefret antwortete für ihn: »Ich hab Euch doch erklärt, dass wir Bruder und Schwester sind, zwar nicht von Geburt an, aber wir fühlen so.«
Da die Monarchen der Heiligen Stadt genau wie die ägyptischen Pharaonen häufiger ihre Schwestern oder Halbschwestern heirateten, setzte Nefret hastig hinzu: »Ich bin nicht verheiratet,
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