Amelia Peabody 18: Das Königsgrab
und jede erdenkliche Vorsichtsmaßnahme zum Schutz der Artefakte ergriffen worden wäre. Gleichwohl leuchtete mir ein, warum Carter und Carnarvon sich über das Berufsethos, wenn nicht gar über ihre Grabungsbefugnisse hinwegsetzen könnten. Nur die wenigsten Archäologen hätten in einer solchen Situation Integrität bewiesen.
Und womöglich waren sie nicht die Einzigen, zumal der magische Begriff »Gold« bei den Bewohnern in Kurna inzwischen gewiss die Runde gemacht hatte. Und der heutige Abend wäre vermutlich die Gelegenheit schlechthin: Immerhin war das Grab lediglich mit einem Holzgitter gesichert und ein paar verbliebenen Steinquadern. Ein erfahrener Grabräuber, und davon gab es etliche am Westufer, würde derartige Hindernisse im Handumdrehen bewältigen.
Ramses zügelte Risha und ritt neben mir. »Alles in Ordnung, Mutter?«
Ich spuckte einen Mundvoll Haare aus. »Bestimmt hat Howard Wachen postiert.«
Ramses zuckte wegwerfend mit den Achseln. Mir war klar, was er damit andeuten wollte. Die wenigsten hätten einem solchen Schatz widerstehen können – vor allem Männer, die nur ein paar Piaster verdienten.
Die Schranke zum Taleingang stand offen, und im Eselpark, der um diese Uhrzeit eigentlich hätte leer sein müssen, standen mehrere Pferde und Maultiere. Damit bestätigte sich Emersons Theorie. Inbrünstig fluchend schob er sich durch die Öffnung.
Der Mond stand als silberne Sichel an einem funkelnden ägyptischen Sternenhimmel. Ich hatte meine hochhackigen Pumps ausgezogen und kam nur langsam voran (und verflixt schmerzhaft). Ramses zu meiner Rechten bewegte sich geschmeidig wie eine Katze, genau wie Sethos, der höflich meinen linken Arm stützte. Keine Ahnung, wieso wir uns mucksmäuschenstill verhielten, zumal Emerson wie ein wilder Stier vorauspreschte. Ein lautes Krachen ertönte, untermalt von Emersons unverständlichem Gebrüll und einem schrillen Aufschrei.
Ich schrie noch lauter. Ich war nämlich auf einen spitzen Stein getreten. Hinkend und stolpernd riss ich mich von Ramses los. »Los, beeil dich! Dein Vater ist in Schwierigkeiten!«
»Geh schon«, sagte Sethos ruhig. »Ich übernehme sie.« Worauf er meine Taille umschlang und mich behutsam weiterführte.
Nachdem wir einen aufgetürmten Geröllhaufen passiert hatten, bot sich uns ein erschütterndes Bild. Das Grab von Tutanchamon lag vor uns, auf der rechten Seite des Pfades. Aus dem Eingang drang gedämpftes Licht. Eine gigantische Gestalt hatte sich vor den Stufen aufgebaut. Sie entpuppte sich als Emerson, der wie Herkules kämpfte und eben ein schmächtiges, zappelndes Etwas auf Armeslänge von sich hielt.
»Tut mir leid, Peabody, dass es etwas länger gedauert hat«, sagte mein Gemahl entschuldigend. »Aber der Bastard hatte ein Messer. Du hast dir doch nicht etwa Sorgen gemacht, oder?«
»Ramses!«, brüllte ich. »Wo bist du?«
»Hier, Mutter.« Er trat aus der Dunkelheit, einen weiteren Missetäter am Schlafittchen gepackt. »Ich fürchte, Deib ist getürmt. Dieser Angsthase.«
»Ah«, sagte ich, erleichtert, dass Mann und Sohn wohlauf waren. »Die Ibn Simsahs.«
»Sie hielten sich in den Felsen oberhalb des Grabmals versteckt«, erklärte Emerson. Er schüttelte seinen Gefangenen, dass dessen Kopf unkontrolliert hin und her schnellte.
»Wo sind die Wachleute?«, wollte ich wissen.
»Das tut nichts zur Sache«, antwortete Emerson. »Was ich wissen will, ist –«
Der Lichtschein in der Graböffnung wurde intensiver, und Howard Carter trat mit einer brennenden Taschenlampe heraus. Ihr flatternder Lichtkegel verlieh der Szenerie etwas Theatralisches: Emerson, zerzaust und zornig; sein Gegner noch zerrupfter, mit zerrissener Robe und zerstörtem Turban. Ich gewahrte das narbige Gesicht von Farhat, der älteste und ehrloseste Spross der Ibn Simsahs. Er hatte seinen Häscher erkannt und den Kampf eingestellt.
Howards Gesicht war ein einziges Fragezeichen. »Was zum Henker ist hier los?«, fragte er verdutzt.
»Bluffen bringt nichts, Carter«, schnaubte Emerson. »Was zum Henker machen Sie eigentlich hier?«
»Wie meinen Sie das? Ich habe jede Berechtigung, hier zu sein.« Howard richtete sich auf.
»Das bleibt abzuwarten«, entgegnete Emerson. »Schätze, Ihre Gesinnungsgenossen sind noch in der Grabkammer, was? Sagen Sie ihnen, sie sollen hochkommen. Die Luft ist rein. Carter, Sie verdammter Idiot, ist Ihnen denn nicht klar, dass Sie Ihre fachliche Reputation und das Leben Ihres Finanziers aufs Spiel setzen? Diese
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