Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
Gallup-Umfragen besuchte 1940 jeder dritte Amerikaner wöchentlich den Gottesdienst; 1950 war der Anteil der Kirchenbesucher auf etwa 50 Prozent gestiegen. Auf die Frage nach dem persönlichen Glücksempfinden antworteten 1957 mehr als die Hälfte der Amerikaner » Very happy «. Nie zuvor war das messbare Glück so groß gewesen, nie wieder sollte es so groß sein.
Wer sich in das damalige Amerika zurückversetzen möchte, der sollte sich auf YouTube den Familienfilm Disneyland Dream anschauen, der im Sommer 1956 von dem begeisterten Amateurfilmer Robbins Barstow gedreht wurde. Barstow hielt Jahr für Jahr die Erlebnisse seiner Familie auf Super 8 fest und machte das auf so originelle Weise, dass seine Filme mit der Zeit zu Klassikern wurden.
In Disneyland Dream nimmt die Familie – Vater, Mutter und drei Kinder zwischen vier und elf – an einem Preisausschreiben des neuen Scotch-Klebebands teil. Dem Gewinner winkt eine Reise mit dem Flugzeug nach Anaheim, Kalifornien, ins soeben eröffnete Disneyland. Und tatsächlich, der jüngere Sohn, Danny, bekommt für seinen bärenstarken Slogan »Ich liebe Scotch-Klebeband, weil es mir hilft, wenn etwas zerbricht« den Hauptgewinn.
Große Aufregung, und alle Nachbarn der Barstows kommen aus ihren Gärten, um der Familie beim Abschied zu winken. Es folgt die spannende, neunstündige Flugreise nach Kalifornien, an Bord einer TWA Super Constellation, die genau 64 Passagieren Platz bietet. Dann der einfache Jahrmarkt des neueröffneten Disneylands. Im Hotel freut sich Barstow darüber, dass auch er und seine Familie den schicken Swimmingpool nutzen dürfen. Ja, die Zeiten sind vorbei, in denen ein solcher Luxus allein der eleganten Elite vorbehalten war. Das Geldproblem lösen die Barstows, indem sie draußen picknicken, anstatt in Restaurants zu speisen.
Zynismus oder Zweifel sind nirgendwo erkennbar, jede Minute des Films ist voller Sonne, Unschuld und ungebrochenem Enthusiasmus. Tatsächlich, so beschließt Bastrow seinen Film, Walt Disney hat recht, Disneyland ist the happiest place on earth . Und die ganze Familie ist »Scotch-Klebeband auf ewig dankbar« für dieses Erlebnis.
Der Schlusschoral dieser herzigen Amerikakantate lautet: Von nun an gehören wir alle zusammen, und jeder kann es schaffen in diesen neuen Zeiten.
Wir Europäer hörten die Klänge aus der Ferne. Für uns Kinder in der Provinz war Amerika ein Traumland mit einem entspannten Lebensstil, von dem hin und wieder ein Hauch über den Ozean geweht wurde. Kurz nach dem Fall der Berliner Mauer besuchte ich eine Familie in Armenien: Jahrelang hatten die Mädchen dort leere Parfümflaschen von Chanel und Lancôme gesammelt, überall im Badezimmer standen sie herum, und irgendwo tief in den Flakons hing noch der Duft des reichen Westens.
Auf dieselbe Art und Weise erlebten wir europäischen Kinder der fünfziger Jahre Amerika: durch ein paar glänzende Zeitschriften, durch ein Spielzeugauto aus glattem, stabilem Kunststoff – allein schon das Schwungrad ist von einer verblüffenden Qualität –, durch ein kostenloses Donald-Duck -Heft, das an einem Herbsttag plötzlich im Briefkasten liegt und in dem eine Verlosung von tausend Armbanduhren – in heutiger Jugendwährung: tausend iPads – annonciert wird. Und dann der Inhalt des Heftes: »Donald Duck als Lehrer«, seine Neffen wagen es sogar, ihrem erschöpften Onkel ein Eis auf den Kopf zu drücken! Einfach so ein Eis zerquetschen!
Aus Amerika kommen dann irgendwann Päckchen mit einem grün-weißen Pulver, aus dem die Hausfrau einen Topf Suppe zaubern kann: California heißt das Zeug. California, flüstern wir, California. In der Provinzstadt, wo ich aufwachse, schleppen wir aus unserem Gemüsegarten selbstangebauten Kohl, Salat, Kartoffeln an ein paar neuen Fabriken vorbei den Marshallweg entlang, der nach einem General benannt ist, der offenbar, jedenfalls verstehe ich es so, all diese Betriebe bezahlt hat: Amerika! Von unserem Taschengeld kaufen wir flache Kaugummipäckchen, schön verpackt und mit beiliegenden Bildern von Filmstars – die wir sammeln –, und alles riecht fremd und rosig: Amerika! Auf Kurzwelle empfangen wir mit unserem Radio knisternd und knackend einen Soldatensender, mit einem Moderator, der einfach in die Swingstücke hineinspricht: Amerika! Lionel Hampton kommt in die Niederlande, im September 1953. Der Saxophonist spielt auf dem Rücken liegend. Dann verlässt Hampton sein Vibraphon, um zu trommeln und einen Tanz zu dem
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