08 - Old Surehand II
ERSTES KAPITEL
Bei Mutter Thick
Jefferson City, die Hauptstadt des Staates Missouri und zugleich der Hauptort des County Cole, liegt am rechten Ufer des Missouri auf einer anmutigen Höhe, welche einen sehr interessanten Blick auf den unten strömenden Fluß und das auf demselben herrschende rege Leben und Treiben bietet. Die Stadt hatte damals viel weniger Einwohner als jetzt, war aber trotzdem bedeutend durch ihre Lage und durch den Umstand, daß hier die regelmäßigen Sitzungen des Distriktsgerichts abgehalten wurden. Es gab mehrere große Hotels da, welche für gutes Geld passable Wohnungen und genießbares Essen gewährten; ich verzichtete aber darauf, in einem derselben einzukehren, weil ich erstens das Hotelleben nicht liebe, sondern lieber dahin gehe, wo ich die Menschen in ihrer Ursprünglichkeit kennenlernen kann, und weil es zweitens einen Ort gab, an welchem man für viel weniger Geld sehr gut wohnte und vortrefflich verpflegt wurde. Das war Firestreet No. 15 bei Mutter Thick, in dem von den Seen bis zum mexikanischen Golf und von Boston bis San Francisco wohlbekannten Boardinghouse, an welchem gewiß kein echter Westmann, falls er einmal nach Jefferson City kam, vorüberging, ohne einen kürzeren oder längeren drink zu halten und dabei den Erzählungen zu lauschen, welche im Kreis der anwesenden Jäger, Trapper und Squatter die Runde machten. Mutter Thicks Lokal war bekannt als ein Ort, in welchem man auf diese Weise den wilden Westen kennenlernen konnte, ohne die dark-and-bloody-grounds selbst aufsuchen zu müssen.
Es war Abend, als ich den Gastraum betrat, wo ich noch nie gewesen war. Mein Pferd und meine Gewehre hatte ich auf einer aufwärts am Fluß liegenden Farm gelassen, wo Winnetou meine Rückkehr erwarten wollte. Er liebte es nicht, in der Stadt zu wohnen und sich auf den Straßen herumzutreiben, und hatte deshalb für einige Tage diesen Aufenthalt auf dem Land genommen. Ich hatte in der City verschiedene Einkäufe zu machen, und auch mein Anzug, der außerordentlich mitgenommen war, bedurfte einiger Ausbesserung oder vielmehr er bedurfte derselben sehr, besonders was die langen Stiefel betraf, die an vielen Stellen höchst ‚offenherzig‘ geworden waren und ihren früheren Gehorsam in der Weise verloren hatten, daß sie, ich mochte die Schäfte heraus bis an den Leib ziehen, so oft ich wollte, doch immer wieder bis auf die Füße herunterrutschten.
Zugleich wollte ich meinen kurzen Aufenthalt hier in der Stadt dazu benutzen, eine Erkundigung nach Old Surehand einzuziehen. Als ich ihn bei unsrer Trennung gefragt hatte, ob, wann und wo ich ihn vielleicht wiedersehen könne, war er nicht imstande gewesen, mir eine bestimmte Antwort zu geben, hatte mir aber gesagt:
„Wenn Ihr einmal zufälligerweise nach Jefferson City, Missouri, kommt, so geht in das Bankgeschäft von Wallace und Co. wo Ihr erfahren werdet, wo ich mich zu der betreffenden Zeit befinde. “
Nun war ich da und wollte diese Gelegenheit natürlich nicht vorübergehen lassen, ohne Wallace und Co. aufzusuchen.
Also es war abends, als ich bei Mutter Thick eintrat. Ich sah einen langen und ziemlich breiten Raum, der von mehreren Lampen hell erleuchtet war. Es standen wohl gegen zwanzig Tische da, von denen die Hälfte besetzt war, und zwar von einer sehr gemischten Gesellschaft, wie ich trotz des außerordentlich dichten Tabakqualmes sah. Es gab da einige sehr fein gekleidete Gentlemen – die Papiermanschetten weit aus den Ärmeln hervorstrebend, den Zylinder tief im Nacken und die in glanzledernen Stiefeletten steckenden Füße auf dem Tisch; Trappers und Squatters in allen Formen und Farben und in die unbeschreiblichsten Gewandungen gehüllt; farbige Leute vom tiefsten Schwarz bis zum hellen Graubraun, mit wolligem, lockigem, schlichtem Haar, mit wulstigen und schmalen Lippen, gestülpten Negernasen oder solchen von mehr oder weniger kaukasischem Schnitt; Flößer und Schiffsknechte, die Stiefelschäfte hoch heraufgezogen, das blitzende Messer neben dem heimtückischen Revolver im Gürtel; Halbblutindianer nebst andern Mischlingen von allen möglichen Sorten und Schattierungen.
Dazwischen fegte die wohlbeleibte, ehrbare Mutter Thick umher, und sorgte mit behender Gewandtheit dafür, daß keinem ihrer Gäste das mangelte, wonach sein Begehr ging. Sie kannte alle, nannte jeden bei seinem Namen, warf dem einen freundlichen Blick zu und drohte jenem, der zum Streit aufgelegt zu sein schien, heimlich warnend mit dem Finger.
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