Amerikanische Reise
|5| 1 jet lag
|7| Einsamkeit kann es nur geben, wo es Individuen gibt. Wo es Individuen gibt, aber gibt es beides: die Lust zur Individualität
und damit den Drang
in
die Einsamkeit und das Leiden an der Individualität und damit den Drang
aus
der Einsamkeit. Dabei kommt es immer nicht auf das Individuum-Sein an, sondern darauf, ob einer sich als Individuum fühlt
und weiß.
KARL JASPERS,
Einsamkeit
Nach diesem ganzen Trara (und da war noch mehr) kam ich an einen Punkt, wo ich Einsamkeit brauchte, wo ich diese Maschine
anhalten mußte, um nicht mehr zu »denken« und das, was sie »Leben« nennen, nicht mehr zu »genießen«, ich wollte mich einfach
ins Gras legen und in die Wolken sehen.
JACK KEROUAC ,
Allein auf einem Berggipfel
|9| Es gibt viele Gründe, eine Zigarette zu rauchen. Tatsache ist aber, daß die meisten Zigaretten völlig grundlos geraucht werden
und sich vor den Augen des Rauchenden in Luft auflösen, ohne daß dieser sie wirklich bemerkt. Mehr noch: Man ist erst dann
Raucher, wenn man Zigaretten nicht mehr wahrnimmt, wenn der Griff zur Schachtel, der zum Feuerzeug, das Anzünden und der erste
Zug eine Bewegungseinheit bilden wie das Auskuppeln, Schalten und Einkuppeln beim Autofahren oder das Schließen der Haustür
und das Drehen des Schlüssels im Schloß, das so unbewußt geschieht, daß man kurz nach Beginn einer Reise gelegentlich beunruhigt
ist, man könne die Tür nicht verschlossen haben. Ebenso ist kein Raucher in der Lage, am Ende eines Tages zu sagen, wie viele
Zigaretten er geraucht hat, er kann es nur schätzen, die Zigaretten selbst erreichen sein Bewußtsein nicht – nicht mehr.
Wer mit dem Rauchen beginnt, tut es nicht wegen des Rauchens, sondern wegen der damit verbundenen Rituale. Egal, ob in einer
Arbeitspause oder auf einer Bergspitze – die Zigarette ist ursprünglich der Versuch, nach einer Phase der Konzentration auf
anderes, zurück zu sich selbst zu finden, und sie gleicht darin mehr einer Hostie als einem Genußmittel. So vertraut auch
die Werbung der Zigarettenhersteller auf den rituellen Charakter des Rauchens, und man muß zugeben, daß es in einer Zeit,
die eher unter |10| einem Zuwenig als unter einem Zuviel an Ritualen leidet, genügend Gründe gäbe, mit dem Rauchen zu beginnen. Allerdings gibt
es mindestens ebenso viele, die dagegen sprechen, wobei die schwarzen Lungen verstorbener Raucher eher unbedeutend sind gegenüber
der Tatsache, daß es keinen Sinn macht, zwanzig oder vierzig Hostien am Tag zu schlucken. Der einzige Ausweg aus dieser Zwickmühle
kann nur sein, mit dem Rauchen anzufangen, um anschließend wieder damit aufzuhören. Das ist nicht leicht, aber kein vernünftiger
Mensch käme auf den Gedanken zu verlangen, das Leben müsse immer leicht sein. Kaum ein Raucher, der nicht regelmäßig mit dem
Gedanken spielte aufzuhören, denn niemand kann so tun, als gäbe es die Zeit nicht, die aus jedem Ritual irgendwann eine leere
Gewohnheit macht. Es ist zwar möglich, auch Gewohnheiten bis ans Lebensende fortzuführen, aber vielleicht müßte man es erreichen,
selbst wenn man dazu auf Dauer die Kraft gar nicht haben kann, stets aufs neue Rituale aufzubauen und sie anschließend wieder
zu zerstören.
Vor einem halben Jahr hatte Jan mit dem Rauchen aufgehört. Das letzte mit einer Zigarette verbundene Ritual, das eine Spur
in seinem Leben hinterlassen hatte, lag allerdings schon länger zurück, vier Jahre ungefähr, eine Abschiedszigarette: Kristin
stand ihm auf dem Frankfurter Flughafen gegenüber, während Walter, ihr Mann, zu einem Kiosk ging, um ein paar Zeitschriften
zu kaufen, seine Börsenblätter, einen
Spiegel.
Die Anzeigetafel tickerte, und die Buchstaben und Flugnummern huschten über die schwarze Fläche wie die Bildchen eines Daumenkinos.
Gelegentlich rieselte ein Aufruf von der Decke. Jan bot Kristin damals eine Zigarette an, obwohl sie nur selten rauchte –
sie überlegte kurz und |11| nahm dann eine. Er beugte sich vor und gab ihr Feuer. Er wurde damals von einer seltsamen Stimmung erfaßt, die zwar kaum zur
Situation paßte, die ihn aber angenehm durchdrang: Es kam ihm vor, als müsse er sich nicht von ihr verabschieden, sondern
als stehe sie ihm nach einem Fest gegenüber in einem Zimmer mit halb geleerten Gläsern, einer von Plaudereien verbrauchten
Luft und unbeachteter Musik im Hintergrund. Es war, als müßten sie sich nur noch darüber verständigen, zu wem
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