Amerikanische Reise
Verfolgungsjagden in Vorabendserien. Amerika gleicht
Amerika. Jan fragt sich, ob man sich in den Vierteln neben dem Highway überhaupt aufhalten dürfte. Wenn man etwas über New
York zu wissen glaubt, dann daß man als Weißer in Harlem krankenhausreif geschlagen wird. Wo ist Harlem? Die Bronx?
Walter klopft Asche ab. »Normalerweise kann man die Metro problemlos benutzen. Man wird nicht sofort überfallen, auch nachts
nicht. Die meisten Linien sind
safe.
Man sollte nicht unbedingt in die Bronx fahren, aber nach Harlem beispielsweise ist es kein Problem. Du kannst völlig |24| normal in Harlem rumlaufen. Am Anfang ist es merkwürdig, wenn du nur Schwarzen begegnest. Ich meine, man sieht ja seine eigene
Hautfarbe nicht und sieht also gar nicht, daß man ein Fremdkörper ist. Im ersten Moment bist du mißtrauisch, wenn einer auf
dich zukommt, aber sie wollen dir nur irgendwelchen Kleinkram verkaufen wie überall. Kürzlich war Muttertag, und auf den Straßen
waren lauter Familien, rausgeputzt, wie man das in weißen Bezirken nicht sieht.«
Die Stadt enthüllt sich nur langsam, Manhattan läßt sich nicht drängeln. Kindergeburtstag: Erst die kleinen Geschenke auspacken,
bevor man das große aufreißen darf. Jan hat wirklich Geburtstag, ein Zufall. Er könnte sich also etwas wünschen: anhalten
und aussteigen.
Walter wechselt die Spur. »Die Sicherheit in New York ist kein Problem. Ich gehe jeden Tag mit Anzug, Krawatte und Aktenkoffer
durch den Central Park. Neulich haben sie Modeaufnahmen gemacht. Vielleicht für
Harper’s Bazaar
oder weiß der Teufel wofür. Sie haben zwei wirklich tolle Models abgelichtet. Die eine war Deutsche. Der Fotograf rief
action, Monika,
und sie tänzelte ein paar Sekunden herum und schnitt komische Grimassen. Kaum zu glauben, daß dabei vernünftige Aufnahmen
herauskommen. Nach vier, fünf Filmen war das nächste Model an der Reihe. Die beiden sahen wirklich knackig aus.« Walter drückt
seine Zigarette aus. »Neulich ist jemand auf dem zentralen Busbahnhof erschlagen worden. Aber das kann dir auch in Deutschland
passieren. Überall auf der Welt.«
Jan versucht, die Eindrücke zu speichern. Das Bandgerät in seiner Hand fehlt ihm jetzt: Er hat keinen Behälter für seine Beobachtungen:
Brückenpfeiler wachsen auf der grüngetönten Windschutzscheibe. Der Verkehr wird dichter und dichter, dann steht der Buick
im Stau. Siebentausend |25| Kilometer gereist, und siebenhundert Meter vor dem Ziel ist Schluß.
Daß Walter redet und redet, ist Jan angenehm und geht ihm zugleich auf die Nerven. Er fragt sich, warum Kristin nicht mitgekommen
ist, ihn abzuholen? Er ist enttäuscht. Soviel er weiß, arbeitet sie nicht fest, sondern frei in einer Galerie, die sie mitbegründet
hat. Walter gefiel es nicht, daß Kristin aufhörte, als Mathematikerin zu arbeiten. Es gab wegen dieses Schritts eine Reihe
von Auseinandersetzungen zwischen den beiden, die ihre Ehe belasteten und zu keinem Ergebnis führten. Vor allem gefielen Walter
die Freunde nicht, mit denen Kristin das Galerieprojekt ins Leben gerufen hatte, insbesondere Rick, ein Fotograf, in dem Walter
den Prototypen eines ewig erfolglosen Künstlers sah. Rick war in Walters Augen gar nicht in der Lage, ein Ziel konsequent
zu verfolgen, weil er sich immer verzettelte. Walter war überzeugt, daß Erfolg gleichbedeutend war damit, ein klares Ziel
vor Augen zu haben, und er selbst hatte ein klares Ziel vor Augen: Er wollte ins Finanzmanagement. Er war nie der Mensch,
der sich mit Zweifeln belastete. Wer zuviel Gepäck mitnimmt, pflegte er zu sagen, macht irgendwann schlapp. Darum hatte er
von vornherein nur das Nötigste mitgenommen. Eigentlich hatte er gar nichts mitgenommen, keine Bedenken, keine komplizierten
Fragen. Hin und wieder fand Jan ihn regelrecht naiv. Aber Kristin hatte sich, wie Jan wußte, was die Galerie betraf, gegen
ihn durchgesetzt. Vielleicht, überlegt er jetzt, hat sie dort zu tun, aber seine Enttäuschung bleibt.
Er versucht, die Zeit zu schätzen. In Berlin müßte es jetzt zehn Uhr abends sein. Der Verkehrsstau und die Helligkeit irritieren
ihn, als blicke er auf eine Uhr, die seit Stunden steht. In den Ritzen der brüchigen Zementplatten |26| am Straßenrand sprießen mit bewundernswerter Zähigkeit ein paar Unkrauthälmchen.
»Wie geht es Kristin?« fragt er.
»Sie wollte irgend etwas in ihrer Galerie erledigen«, sagt Walter, und es ist nicht zu überhören, daß er
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