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Amnion 1: Die wahre Geschichte

Amnion 1: Die wahre Geschichte

Titel: Amnion 1: Die wahre Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen R. Donaldson
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unwirksame Komponenten zusammen etwas Neues mit furchterregendem Potential.
    Die gleiche Dynamik vollzieht sich bei mir umgekehrt. Ich fange mit dem ›Exotischen‹ an (bitte berücksichtigen Sie, daß das Aldiss’ Termini, nicht meine sind), aber die Idee weigert sich, eine Geschichte zu werden, bis das ›Geläufige‹ als Katalysator die Umwandlung auslöst.
    Ein Beispiel: Die CHRONIKEN VON THOMAS COVENANT DEM ZWEIFLER gehen geradewegs – und ausschließlich – auf zwei Gedanken zurück: Ungläubigkeit und Lepra. Den Einfall, ein Fantasy-Werk über einen ›Zweifler‹ zu verfassen, einen Mann, der die gesamte Konzeption des Phantastischen ablehnt, hatte ich schon gegen Ende des Jahres 1969. Doch der Keim blieb latent: egal wie ich mich damit abquälte, ich konnte ihn nicht zum Wachstum anregen. Bis ich im Mai 1972 begriff, daß mein ›Zweifler‹ am besten ein Leprotiker wäre. Sobald diese beiden Ideen sich zusammenfügten, fiel in meinem Gehirn endlich der Groschen. Die folgenden drei Monate brachte ich in fieberhafter Schufterei mit dem Niederschreiben von Notizen zu, zeichnete Karten, ersann Charaktere, durchdachte die wechselseitigen Beziehungen zwischen Zweifel und Lepra. Dann fing ich zu schreiben an.
    Die Dynamik läuft bei mir anders als bei Aldiss ab, nämlich umgekehrt, weil für mich Lepra keineswegs das ›Exotische‹, sondern das ›Geläufige‹ repräsentiert. Ich hatte vorher noch nie Fantasy geschrieben. Die gesamte Vorstellung, ein Fantasy-Werk über einen ›Fantasy-Zweifler‹ zu Papier zu bringen, war für mich exotisch. Aufgrund der Tatsache, daß sich mein Vater einundzwanzig Jahre lang in Indien als plastischer Chirurg betätigte, war mir die Lepra in verschiedenerlei Hinsicht durchaus geläufig.
    In bezug auf die vier Romane, die sich der vorliegenden Wahren Geschichte anschließen, könnte man die zwei maßgeblichen Ideen mit den Etiketten ›Angus Thermopyle‹ und ›Richard Wagner‹ versehen.
    Im Gegensatz zu dem, was vielleicht erwartet wird, verkörpert Angus Thermopyle das ›Geläufige‹.
    Die erste Fassung der Wahren Geschichte schrieb ich im Sommer 1985. Damals meinte ich, die Idee liefe einfach auf einen Kurzroman hinaus. Sie fiel mir ein, also machte ich mich bei nächster Gelegenheit an die Arbeit.
    (Und wie hatte ich diese Idee? Auch die Antwort darauf ist etwas peinlich. Die Geschichte entstand allein aus den Namen der Hauptcharaktere. Eines Tages sagte ich auf einmal, während ich durch Albuquerque fuhr, ›Angus Thermopyle, Angus Thermopyle‹ vor mich hin, als wäre es ein Mantra. Ich könnte nicht im entferntesten erklären, wieso mir plötzlich dieser Name durch den Kopf ging. Aber ich spürte von Anfang an, er war für mich wichtig, also sagte ich ihn mir immer weiter auf. Wochenlang. Und dann verfiel ich wie durch Zufall auf einen zweiten Namen: Morn Hyland. Von da an wiederholte ich mir ständig ›Angus Thermopyle‹ und ›Morn Hyland‹, bis ich zudem auf den Namen Nick Succorso kam. Inzwischen mochte ich die Namen so sehr, daß ich mir bewußt den Versuch vornahm, für sie eine ausreichend gute Handlung auszudenken.)
    Meine ursprünglichen Absichten waren deutlich archetypischer Art. Mir schwebte eine ästhetisch makellose Variante der elementaren Dreiecksgeschichte vor: der Geschichte, in der ein Opfer (Morn), ein Unhold (Angus) und ein Retter (Nick) alle die Rollen tauschen. (Darin liegt, nebenbei erwähnt, der wesentliche Unterschied zwischen Kitsch und Dramatik. Im Melodram treten ein Opfer, ein Unhold und ein Retter auf und halten sich an ihre Rollen. In der echten Dramatik agieren die gleichen Charaktere, aber sie schildert die Entwicklung, in deren Verlauf sie ihre Rollen wechseln.) Als Angus’ Opfer wird Morn von Nick gerettet – doch natürlich ist das nicht die wahre Geschichte. Die wahre Geschichte ist, wie Angus zu Nicks Opfer und Morn zu Angus’ Retterin werden.
    Sobald ich jedoch die Erstfassung des Kurzromans beendet hatte, geriet ich – aus wenigstens drei Gründen, von denen mir nur zwei klar wurden – in einen Zustand ernster Betroffenheit. Erstens erkannte ich unverzüglich, was ich geschrieben hatte, war alles andere als ›ästhetisch makellos‹; meine Leistung war hinter meinen anfänglichen Vorsätzen noch weiter als sonst zurückgeblieben. Meine Planung sah ein ausgewogenes Dreieck vor, in dem jeder Hauptcharakter die gleiche Aufmerksamkeit genießen und gleichwertige Betonung auf jeden Rollentausch gelegt werden sollte.

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