Amnion 5: Heute sterben alle Götter
er, andernfalls die Gedanken nicht mehr beisammenhalten zu können.
»Zunächst einmal sollten wir zwischen der akuten Krise und dem allgemeinen Notstand unterscheiden. Die Bewältigung der akuten Krise obliegt nach dem Gesetz im Effekt Polizeipräsident Dios. Er wird sich nach besten Fähigkeiten der Abwendung der Gefahr widmen, welcher die Stiller Horizont verkörpert. Gleichzeitig hat seine Orbitalstation, das VMKP-HQ, auf dem gesamten Planeten Vorbereitungen für einen etwaigen Ernstfall veranlaßt. Schon vorher ist eine Reisesperre über die Konzilsinsel verhängt worden. Jetzt wissen Sie warum. Wir könnten nirgends mehr rechtzeitig hinflüchten, um uns zu retten. Abgesehen davon, daß wir auf unser Überleben hoffen, kann vieles für die Menschen getan werden, deren Repräsentanten wir sind, und wird getan. Die Ballungszentren werden evakuiert. Unterirdische Anlagen aller Art – geothermische Tiefkraftwerke, Erdkrustenforschungsstätten, Lager und Depots, beschußgeschützte Polizei- und Militäreinrichtungen – sind zu Bunkern umfunktioniert worden. Für eine eventuelle Nachkatastrophenversorgung legt man Wasser- und Nahrungsvorräte an. Man ist dabei, sichere Kommunikations- und Distributionswege in Betrieb zu nehmen. Mittlerweile zielt der überwiegende Teil aller auf dem Planeten vorhandenen Waffen ins All. Diese notwendigen Maßnahmen werden auf wirklich erstaunlich effiziente Weise durchgeführt. Auch darin sehe ich einen Beweis für Polizeipräsident Dios’ Verläßlichkeit – und für seine Weitsicht.«
Ein zweites Mal schaute der Konzilsvorsitzende unvermutet hinüber zu Maxim Igensard. Zur gleichen Zeit rückte eine Bewegung des Sonderbevollmächtigtem plötzlich Sixten Vertigus in Koinas Blickfeld. Jetzt war der greise Konzilsdeputierte schließlich doch wach und hörte zu.
»Trotzdem läßt sich nicht leugnen«, setzte Len seine Ausführungen fort, »daß diese Vorkehrungen in geradezu erschreckendem Maß unzulänglich sind. Zu lange haben wir geglaubt, wenn wir in einen Weltraumkrieg verwickelt würden, fände er« – der Konzilsvorsitzende hob das Zepter in Richtung Saaldecke – »andernorts statt. Irgendwo weit entfernt zwischen den Sternen, nicht hier. Wir haben für einen Krieg geplant, gebaut und vorgesorgt, der ganz woanders ausgefochten wird. In dieser Beziehung sind wir auf die akute Krise unzureichend vorbereitet. Das VMKP-HQ kann im Moment nichts zustandebringen, um die jetzt erkannten Mängel wettzumachen…«
Abrim Len legte eine Pause ein. Als er weiterredete, klang in seiner Stimme eine gewisse Gezwungenheit an, als müßte er sich mühsam dazu durchringen, Einlassungen von sich zu geben, die ihm Unbehagen verursachten; Behauptungen aufzustellen, die keine Zustimmung finden konnten, sondern Widerspruch hervorrufen mußten.
»Allerdings betrachte ich unsere mangelhafte Bereitschaft als einen Bestandteil dessen, was ich als allgemeinen Notstand betrachte. Dieser allgemeine Notstand betrifft die Politik, die Institutionen – und – jawohl! – die Personen, die die Herbeiführung der akuten Krise zu verantworten haben. Wenn die Beilegung der akuten Krise Polizeipräsident Dios’ Sache ist – wie es sich tatsächlich verhält –, müssen wir die Meisterung des allgemeinen Notstands als unsere Angelegenheit ansehen. Sind wir auf eine örtlich begrenzte, militärische Konfrontation ungenügend vorbereitet, tragen wir dafür die Verantwortung. Und falls es auf irgendeine Person, Organisation oder eine Fehlentscheidung zurückgeht, daß wir jetzt mit der Stiller Horizont konfrontiert sind, liegt auch dafür die Verantwortung bei uns. Das sind die Fragen« – gepreßten Tons kam Len zum Abschluß seiner Eröffnungsansprache –, »mit denen die Krisensitzung sich befassen muß. Ich schlage vor, Sie bleiben alle anwesend, bis eine sachgerechte Erörterung erfolgt.«
Flüchtig amüsierte Koina sich während des Zuhörens. Soviel geistige Aufgewecktheit hatte sie von Abrim Len nicht erwartet. Hinter seinem vermutlich angeborenen Bammel vor Auseinandersetzungen verbarg sich allem Anschein nach ein durchaus tüchtiger Verstand. Möglicherweise hatte er sogar ein gewisses Ehrgefühl. Seine Äußerungen waren das genaue Gegenteil der Anschuldigungen und Forderungen Sen Abdullahs. Konnte eine einfache Mehrheit des Regierungskonzils soweit gebracht werden, die Lage so klar wie Abrim Len zu sehen, bestand Hoffnung: zumindest die Hoffnung, Panik zu vermeiden, und vielleicht Hoffnung
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