Amnion 5: Heute sterben alle Götter
tun? Was waren sie zu wagen bereit? Warden Dios hatte keine Ahnung. Er sah ein, daß er sich gar nicht mehr vorzustellen vermochte, was die Menschen, die er geprägt, die er im Stich gelassen hatte, nun noch anfingen.
»Die Vorbereitungen sind abgeschlossen«, informierte Vestabule ihn weiter. »Wir erwarten die Ankömmlinge an der für den Zweck Ihrer Ankunft zugewiesenen Schleuse.« Er zeigte auf den Ausgang. Offenbar meinte er, daß er und Dios Dr. Shaheed und Davies Hyland abholen sollten. »Sobald sie an Bord sind, übermitteln wir dem Kommandomodul eine Abflugstrajektorie und nehmen Beschleunigung auf.« Das Herz wummerte Warden Dios in der Brust. Unter der Atemmaske leckte seine Zunge nach dem verschwundenen Schutzmittel. »Und was wird aus mir?«
Er vermutete, daß die Amnion ihn ungeachtet der vor seinem Abflug vom VMKP-HQ ihrerseits gegebenen Versprechen auf jeden Fall festhielten. Trotz seines Unterliegens war er ein wertvoller Gefangener. Und sie konnten eine Geisel gebrauchen. Seine Anwesenheit an Bord der Stiller Horizont erhöhte die Wahrscheinlichkeit, daß die Defensiveinheit sich unbehelligt aus dem Sonnensystem absetzen durfte.
Als empfände Vestabule Unbehagen, flatterten die Lider seines menschlichen Auges.
»Falls es Ihr Wunsch ist, wird Ihnen gestattet, zu Kapitän Ubikwe an Bord des Kommandomoduls zu gehen.«
Für eine Sekunde schien sich um Warden Dios’ Kopf alles zu drehen, als wäre ihm ein Hinrichtungsaufschub gewährt worden. Wird Ihnen gestattet… Fast könnte er es glauben. Die Amnion erfüllten ihre Vereinbarungen doch stets, nicht wahr? Dafür waren sie bekannt. Hielten sie vielleicht auch diese Zusage ein?
Aber in Wahrheit wußte er es besser. Zu genau überblickte Marc Vestabule die gefährliche Situation, in der sich der Stiller Horizont befand. Er war schon genötigt gewesen, auf Morn Hyland und Angus Thermopyle zu verzichten; deshalb ließ er Dios niemals gehen. Behauptete er das Gegenteil, log er.
Mit verhaltenem Stöhnen machte Warden Dios sich auf das Bevorstehende gefaßt. Er hatte nicht angenommen, daß Vestabules restliches menschliches Erbe sich auch noch auf Falschheit erstreckte.
Linkisch hob Vestabule einen Arm und wies auf die Tür, gab Dios mit einem Wink zu verstehen, daß er ihm folgen sollte. Im ersten Moment regte sich Dios nicht vom Fleck. Er konnte es nicht: Das Grausen ging ihm so durch Mark und Bein, daß es ihn lähmte. Da jedoch entsann er sich des Preises, den Davies Hyland und Vector Shaheed im Namen der Menschheit zu entrichten übereingekommen waren, und er sah ein, daß er nichts scheuen durfte, um nicht hinter ihnen zurückzustehen. An ihrem Schicksal trug er die Schuld. Er mußte wenigstens zur Stelle sein und ihnen in die Augen blicken, wenn sie sich opferten.
Also biß er die Zähne zusammen, setzte sich mit einem Ruck in Bewegung und schwebte zum Ausgang.
Die Tür glitt zur Seite, während er sich näherte.
Im unregelmäßig beschaffenen Korridor vor der Kammer warteten zwei Amnion. Es mochten durchaus dieselben sein, die nach seiner Ankunft auf ihn aufgepaßt hatten; jeder hatte vier Augen, so daß er über Rundumsicht verfügte, einen Mund voller spitzer Zähne, drei Arme und Beine, eine wie von Rost rauhe Haut. Und sie waren auch diesmal unbewaffnet. Wozu brauchten sie Waffen? Er bedeutete für sie keine Gefahr.
Zu spät sah er, daß einer von ihnen eine Injektionsspritze dabei hatte.
Marc Vestabule erinnerte sich also überaus deutlich an Angus Thermopyle und seine Tücke.
Wuchtig stieß Warden Dios sich vom Türrahmen ab, versuchte sich durch die schiere Kraft der Verzweiflung in eine andere Richtung zu wenden. Wild trat er nach der Injektionsspritze, verschlang danach die Beine, um eine Drehung zu vollführen. Aber dicht hinter ihm hielt Marc Vestabule sich bereit. Kaum hatte Dios zu zappeln angefangen, packte der halbmenschliche Amnioni ihn am Rückenteil der Bordmontur, bändigte ihn mit unentrinnbarem Griff.
Panik und Hysterie schnürten Warden Dios die Kehle ein. Er keuchte vor Entsetzen und leistete aussichtslose Gegenwehr, während die beiden Türwächter ihm auf den Leib rückten. Seine Körperkräfte waren ihrer rohen Gewalt nicht gewachsen. Sie faßten seine Handgelenke wie mit Schraubstöcken, umklammerten seine Beine; streckten ihm die Arme, bis er wie ein Gekreuzigter zwischen ihnen in der Luft hing. Dann schob der Amnioni mit der Injektionsspritze ihm den Ärmel hoch und schoß ihm eine klare Flüssigkeit
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