Amnion 5: Heute sterben alle Götter
lang die Flucht nach vorn verwehrt hatte.
Kaum hatte Warden Dios im Sessel des Ersten Offiziers Platz genommen und sich angegurtet, gab Angus schonungslos Vollschub. Die Posaune raste wie ein Geschoß des Verderbens auf die VMK-GD zu. Es bereitete ihnen keine Schwierigkeiten, die größte Raumstation der Erde zu erreichen. Min Donners Artilleriefeuer hatte den VMK-Firmensitz praktisch jeder Verteidigungsmöglichkeit beraubt. Tausende von Menschen hatten den Beschuß überlebt; soviel stand anhand der bloßen Vielzahl von Alarmmeldungen, die von der GD ausgingen, und durch den Umfang des Notruffunkverkehrs eindeutig fest. Aber die Waffen der Orbitalstation waren zerstört worden. Die Stromversorgung war weitgehend ausgefallen. Abgesehen von der Möglichkeit, ein EA-Team auszuschicken, konnte Holt Fasner beziehungsweise sein Betriebsschutz – nichts unternehmen, um zu vereiteln, daß Angus Thermopyle und der VMKP-Polizeipräsident in einem der Shuttle-Hangars festmachten, die sich in der Nabe der torusförmigen, in steter Rotation begriffenen GD befanden.
Angus war sich ganz sicher, daß Fasner sich noch in der Orbitalstation aufhielt. Unmittelbar nach dem Abflug vom Kommandomodul der Rächer hatte er die große Station mittels sämtlicher Sensoren und Partikelanalysatoren gescannt, über die die Posaune verfügte, sie nach Anzeichen für ein gelungenes Entwischen des Drachen abgesucht. Seine Instrumente konnten jetzt auf die Unterstützung durch die das ganze Sonnensystem erfassenden Großortungsanlagen der Erde zurückgreifen: Schon wenige Minuten nach der Vernichtung der Stiller Horizont hatte Min Donner ihr Wiedereinschalten angeordnet. Angus konnte von jedem Raumschiff und jeder Orbitalstation, jeder Signalbake und jedem Scanningrelais rings um den Planeten Daten anfordern. Auf den Monitoren sah er, daß mehrere Dutzend Kosmo-Kapseln unterschiedlicher Abmessungen von der GD abgelegt hatten – von denen die meisten Kurs auf das VMKP-HQ oder die Astrolabor-Station hielten und nur eine Handvoll langsam der Anziehungskraft hinab zur Erdoberfläche folgten –, aber kein einziger Raumflugkörper war auf eine Trajektorie zur Grenze des Sonnensystems und zu den freien Fernen des weiten Weltalls eingeschwenkt.
Wenn Fasner sich absetzte, dann nicht mit einer Kosmos-Kapsel; keine gewöhnliche Kosmokapsel könnte seinen Schatz an Daten und Geheiminformationen aufnehmen. Und er flöge kein Ziel an, wo man ihn, sobald er anlegte oder landete, umgehend verhaftete. Folglich mußte er noch greifbar in der Nähe sein, während Angus die Posaune in die erstbeste leere Parkbucht bugsierte und anflanschte.
Angus fuhr den Pulsator-Antrieb nicht ganz herunter: Er wünschte den Interspatium-Scout für den Fall, daß er ihn dringend benötigte, bereit zum Durchstarten zu haben. Allerdings sperrte er die Kommandokontrollkonsole mit einem Zugangscode, damit niemand außer ihm – nicht einmal Warden Dios – sich das Raumschiff unter den Nagel reißen konnte.
»Und nun?« wandte er sich in erneuertem Eifer und Tatendrang an Dios.
Seit er an Bord war, hatte der Polizeipräsident kein Wort gesprochen. Er hüllte sich im Andrucksessel des Ersten Offiziers in Schweigen, als hätte er sich mit einem Schutzfeld umgeben, und ebenso überhörte er sämtliche beiläufigen Äußerungen Angus’. Überwiegend hatte er auch die Scanningdaten, mit denen sich Angus befaßte, unbeachtet gelassen. Statt dessen hatte er sich auf die Wiedergabe des Data-Nukleus der Posaune konzentriert. Anfänglich wunderte sich Angus: Warum machte sich Dios diese Mühe? Aber da fiel ihm ein, daß der VMKP-Polizeipräsident vermutlich die einzige wichtige Persönlichkeit im Umraum der Erde war, die Morns Aussagen noch nicht kannte. Allem Anschein nach interessierte ihn das, was sie und Angus geleistet und erduldet hatten, mehr als alles übrige.
Also hatte Angus sich nicht eingemischt. Ganz allmählich, mehr oder weniger wider Willen, durchschaute er den Polizeipräsidenten. Aus diesen oder jenen Gründen hatte Dios bei seinem gesamten Vorgehen gegen den Drachen und all seinen Hoffnungen in bezug auf die Zukunft der Menschheit ausschließlich auf Morn und Angus gebaut. Dieselben Überzeugungen, die ihn bewogen hatten, ein derartiges Wagnis einzugehen, veranlaßten ihn jetzt dazu, sich darüber in Kenntnis zu setzen, was sein Erfolg sie gekostet hatte.
Nun beantwortete er nicht einmal Angus’ Frage. Kaum daß die Posaune fest in der Parkbucht lag, öffnete er
Weitere Kostenlose Bücher