Amnion 5: Heute sterben alle Götter
konnte er nichts tun. Selbst die minimale Anstrengung, die Augen zu genauem Hinschauen zu zwingen, verlangte von ihm zuviel; es hätte einen Willensaufwand erfordert, den die Unifikation ihm verbot.
So unmerklich, daß er keinen Moment hätte nennen können, an dem die Wandlung feststellbar gewesen wäre, hatte der endlose Abgrund des Alls rund um den Externaktivitäten-Anzug eintönigweißlichem, durch und durch sterilem, schonungslosem Licht Platz gemacht. Wieviel Zeit mochte verstrichen sein? Dumme Frage. Oder jedenfalls war es dumm, sie zu stellen. Im Zustand der Stasis erhielt er nie Auskünfte vom Data-Nukleus. Digitale Zählwerke in seinem Kopf hatten zweifellos die unterdessen vergangene Zeitspanne bis zur letzten Mikrosekunde gemessen, aber sie verschwiegen ihm diese Informationen. In Stasis, so lautete die Prämisse, benötigte er nichts als Atem und Blut, nichts außer Reduzierung aufs Unverzichtbarste und das nackte Leben.
Weit und breit gab es niemanden, der seinen Zonenimplantaten den Befehl erteilen konnte, ihn aus der Stasis zu befreien. Er selbst, Angus Thermopyle, hatte Barrieren gegen die Codes errichtet, die es ermöglichten, seinem Data-Nukleus Gehorsam abzuringen.
Sprachen die Gestalten? Er wußte es nicht. Sie hielten sich in seiner Nähe auf. Er hörte Stimmen. Zu unterscheiden, ob sie von den Gestalten stammten, vermochte er jedoch nicht.
»Ich versuch’s ja«, beteuerte eine von ihnen. Ohne daß er es hätte begründen können, erkannte Angus die Stimme Mikka Vasaczks. »Der Computer behauptet, er kann nicht aufwachen.«
Allem Anschein nach lag er im Krankenrevier. Jemand mußte von Bord gegangen sein und ihn geborgen haben.
Während eine Singularität die Posaune anzog? Ausgeschlossen.
»Wie schwer ist er verletzt?«
Vector Shaheed stellte die Frage. Der Retter der Menschheit. Der Mann, der das VMKP-DA-Antimutagen analysiert und die Formel der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt hatte. Vorausgesetzt allerdings, in der hiesigen Umgebung des Alls überlebte irgend jemand und empfing seine Funksendung.
»Schwerwiegende Dehydration«, antwortete Mikka. Müdigkeit und Bitternis verzerrten ihren Tonfall. »Infusionen haben sie behoben. Blutverlust… Scheiße, er hat literweise Blut verloren. Aber auch dagegen kriegt er Infusionen. Und größtenteils sind die Blutungen schon gestillt. Eine Hüfte war ausgerenkt worden… Er hat wohl versucht, gegen die Anziehungskraft der Singularität die Lenkdüsen zu benutzen. Aber dieser Teil der Behandlung ist inzwischen beendet.« Der Behandlungstisch des Krankenreviers funktionierte für solche Fälle fast wie ein Greiforgan: Er konnte Streckungen in jede erforderliche Richtung vornehmen. »Auf die Medikamente spricht er an. Metabolitsubstanzen, Koagulantia, Analgetika, Stimulanzien… Aber aufwecken kann der Medi-Computer ihn nicht.«
Natürlich nicht.
Das Krankenrevier der Posaune war eigens für Angus konzipiert und programmiert worden. Die cybernetischen Medizinalprogramme kannten ihn in- und auswendig; im selben Augenblick, in dem man ihn auf den Behandlungstisch gebettet hatte, waren speziell auf ihn abgestellte Instruktionspakete und Diagnosemethoden aktiviert worden. Sie boten die Mittel, um an seiner Unifikation Reparaturen durchzuführen. Sogar Schädigungen, die die Elektroden in seinem Hirn verursachten, konnten sie beheben. Innerhalb gewisser Schranken verstanden sie sich sogar auf die Beseitigung von Defekten seiner cyborgischen Ausrüstung.
Vorher jedoch mußten die richtigen Codes eingegeben werden.
»Was zeigt das EEG?« wollte Vector Shaheed erfahren.
Vielleicht hatte er darüber keine Klarheit, daß er seine Zeit verschwendete.
»Gar nichts«, konstatierte Mikka kurz und bündig.
»Du meinst, er ist hirntot?«
Davies. Er hatte eine unverwechselbare Stimme. Angus kannte sie genau. In bestimmten Streß-Situationen hatte sie den gleichen Klang wie seine eigene.
Drei Stimmen. Mikka, Vector und Davies. Vermutlich mußte er also davon ausgehen, daß sich ringsum drei statt nur zwei Gestalten aufhielten.
Wo war Morn?
Tot? Dem Hyperspatium-Syndrom verfallen?
Im eigenen Kopf suchte Angus das Weite. Niemals umzukehren, schwor er sich. Zu tief schmerzte ihn Morns Leid. Er mochte gar nicht wissen, was ihr zugestoßen war, weil er befürchtete, es könnte mehr sein, als er verkraften konnte.
Aber ebensowenig, wie er die Befähigung hatte, sich selbst in den Normalzustand zurückzubringen, fand er eine Gelegenheit zur Flucht,
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