Amnion 5: Heute sterben alle Götter
»Händigen Sie mir die Pistole aus.«
Angus Thermopyle war ein unifizierter Cyborg, beherrscht durch Zonenimplantate und umfangreiche Programmierung; unterstand der absoluten Kontrolle der VMKP. Hashi Lebwohl hatte im VMKP-HQ allen und jedem beteuert, Thermopyle könnte nie wieder einen einzigen Atemzug in Freiheit tun, solang er lebte.
Doch er gab die Waffe nicht heraus.
Statt dessen stieß er ein grölendes Lachen hervor, das wie ein Grollen aus dem Rachen eines Raubtiers klang.
»Na, und was nun? Ich habe sie Ihnen nicht ausgehändigt. Ist das nicht erstaunlich?« Sein Blick bohrte sich in Min wie das kohärente Licht eines Lasers.
»Und wissen Sie, was noch erstaunlicher ist?« fragte er. »Es ist mir nicht mehr verboten, Scheißtypen wie VMKP-Mitarbeiter in die Mangel zu nehmen. Jetzt nicht und nie wieder.«
Er drehte die freie Hand, als wollte er auf den Kommandosessel deuten. Unvermutet schoß zwischen seinen Fingern ein rubinroter Strahl hervor, dünn wie ein Faden, und auf Kapitänhauptmann Ubikwes Füße zu. Erst versengte der Laser das Deck, schmolz Metall, so daß ein Rauchwölkchen aufwallte, Gestank nach Hitze sich ausbreitete. Danach kroch der Laserstrahl an der Seite von Dolph Ubikwes Stiefel hoch.
Der Kapitän saß in seinem G-Andrucksessel, als bestünde er aus Stein. Er rührte keinen Muskel. Falls er Schmerz verspürte, ließ er sich nichts anmerken. Aber der Blick, den er auf Angus Thermopyle heftete, verhieß Mord.
»Ihnen hab ich schon was verpaßt«, maulte Thermopyle die OA-Direktorin an, »das Ihnen zu denken gibt.« Langsam lenkte er den Laserstrahl von Ubikwes Stiefel fort. »Ihm könnte ich seine verdammten Stelzen amputieren, wenn ich dazu Lust hätte.« Endlich deaktivierte er den Laser.
Ein gedämpftes Seufzen ging durch die Steuerbrücke, als Bydell, Porson, Cray und Glessen wieder zu atmen wagten.
»Wir haben meinen Data-Nukleus frisiert«, behauptete Angus Thermopyle voller Verachtung. »Ich brauche nicht mehr Ihre Befehle auszuführen, mich nicht mehr abschalten oder dahin bringen zu lassen, daß ich meine Versprechen nicht einhalten kann. Sie haben keine Macht mehr über mich. Haben Sie kapiert?!«
Plötzlich fing er zu toben an. »Ich bin mit Ihnen fertig! Geben Sie mir noch einmal ’n Befehl, und ich drehe Ihnen eigenhändig den Hals um!«
»Morn«, sagte Davies Hyland fast flehentlich, »sag ihm, er soll aufhören. Er hat alles deutlich genug erklärt. Auf weitere Drohungen können wir verzichten.«
Mikka Vasaczk hatte die Pistole fest im Griff: Die Mündung schwankte um keinen Zentimeter. »Wer weiß«, brummelte sie. »Nur nicht schlappmachen.«
»Auf jeden Fall spricht Angus die Wahrheit, Direktorin Donner«, beteuerte Vector Shaheed, als läge ihm daran, sie zu beschwichtigen. »Er nimmt auch von uns keine Befehle entgegen.«
Min starrte Angus Thermopyle an, ohne sich zu regen. Einen Moment lang glaubte sie, ihr Herz bliebe stehen. Angesichts der Fähigkeit Thermopyles, seinen Prioritätscodes zu widerstehen, wurde ihr zumute, als verlöre sie den Bezug zur Realität.
Den Data-Nukleus frisiert? Wie? So etwas galt als unmöglich. An sich war das gesamte Verhalten Thermopyles undenkbar.
Hashi, du elender, verfluchter Mistkerl, das ist…
Doch plötzlich fiel ihr mit der Intensität eines Elektroschocks eine andere Erklärung ein.
… dein Werk?
Nein. Hashi Lebwohl steckte nicht dahinter. Er hatte damit nichts zu schaffen. Alles ging zurück auf Warden Dios.
Warden Dios hatte die Rächer eine Nachricht an die Posaune funken lassen. Der Text dieser Nachricht hatte Angus Thermopyle gezwungen, seine Prioritätscodes Nick Succorso zur Verfügung zu stellen. Aber der Klartext war in eine Art sehr spezieller Maschinensprache eingebettet gewesen. Und jetzt war Angus Thermopyle wieder frei. Mit der Programmiersprache verwandt, die wir zum Einschreiben der festintegrierten Instruktionen in Data-Nuklei verwenden.
Alles war Warden Dios’ Werk.
Ohne Frage hing die Zukunft, für die er kämpfte, von dem ab, was sich hier ereignete.
Morn Hyland antwortete nicht auf die Zwischenbemerkung ihres Sohns, und ebensowenig sagte sie etwas zu Thermopyle; sie wandte die Augen nicht von der OA-Direktorin. Es konnte sein, daß Min sich täuschte: Unter Umständen trübten gar keine Zweifel den Blick der Leutnantin. Vielleicht war die Ursache Kummer.
»Wir haben nicht die Absicht, irgend jemand umzubringen.« Ihr Tonfall verriet Entschiedenheit, doch auch Anklänge der
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