Amnion Omnibus
HyperspatiumSyndroms in ihrem Gehirn aufgedeckt hatte, vollzog sich im Reich einer Physik, die die menschlichen Sinne nicht wahrnahmen. Und trotzdem ging es den meisten Menschen so wie jetzt ihr: Ihnen stockte der Atem, oder sie verkrampften sich auf andere Weise. Nerven und Ganglien reagierten mit nahezu zellulärer Furcht – einem Grausen, das durchaus dem genetischen Abscheu der Menschheit vor den Amnion ähnelte – auf die Aussicht, ohne Übergang von einem an einen anderen, Milliarden vom Kilometern entfernten Ort versetzt zu werden.
Fünf Sekunden.
Mit halblauter Stimme gaben Steuermann, Datensysteme-Offizierin und Scanningoffizier fortlaufend Statusmeldungen ab.
Daran änderte sich nichts, bis an der Scanningkonsole Porson plötzlich aufgeregt schrie, daß die Rächer die vorgegebenen Zielkoordinaten innerhalb der regulären Tach-Übersprungszone des VMKP-HQ um 40.000 km verfehlt hatte – und daß die Stiller Horizont vor ihr eingetroffen war.
WARDEN
Warden Dios saß in der Steuerkanzel seines Shuttles, während das kleine Raumfahrzeug ihn auf den nahen Koloß der Amnion-Defensiveinheit zubeförderte. Wo er eigentlich sein sollte, in der sogenannten Chefkabine, gab es für ihn nichts zu tun, und er konnte es nicht ertragen, tatenlos dazuhocken. Er mochte die Flugzeit nicht damit zubringen, ein Chronometer anzustarren, das unerbittlich die Frist seines Lebens vertickte.
Allerdings hatte er zu seinem Bedauern auch in der Steuerkanzel keinerlei Tätigkeiten zu verrichten. Für die leichte Aufgabe, ihn zur Stiller Horizont zu fliegen, war die Crew geradezu überqualifiziert. Aber er konnte sich mit dem Beobachten der Scanning-Displays und Datensysteme-Anzeigen beschäftigen; auch mitverfolgen, wie seine Raumschiffe sich allmählich um die Defensiveinheit massierten, und sich das klotzige Profil des Amnion-Kriegsschiffs auf Schäden oder Schwächen ansehen.
Selbstverständlich standen die Instrumente des Shuttles mit den Scanning-Großanlagen der Erde in Verbindung. Wenn Rächer und Posaune eintrafen, erfuhr er es sofort.
Je länger sie ausblieben, um so schwächer wurde die Position der Stiller Horizont. Sobald die Streithammer da war, mußte der Amnion mit der vollen Gewalt ihrer Bordartillerie rechnen. Dann schrumpften Marc Vestabules Drohungen zu Hohlheiten. Zwar konnte keine Menschenmacht verhindern, daß die Defensiveinheit Suka Bator beschoß. Danach jedoch war ihr ein schnelles Ende sicher. Vielleicht überstand sogar das VMKPHQ das Gefecht.
Wenn die Posaune lange genug fernblieb, konnte die Stiller Horizont mit nichts mehr wuchern als dem Überleben des Erd-und Kosmos-Regierungskonzils – und Warden Dios’ Leben.
Angus Thermopyles Programmierung umfaßte eine enge Einschränkung der Voraussetzungen, unter denen er zur Erde zurückkehren durfte. Er selbst hatte keine Möglichkeit, um diese Entscheidung zu treffen; sie mußte von einer Instanz ausgehen, die sein Data-Nukleus anerkannte. Falls Nick Succorso keinen Flug zur Erde befahl – und die Posaune es schaffte, sich der Rächer zu entziehen, so daß Min Donner keine Gelegenheit zum Eingreifen fand –, kreuzte Thermopyle eventuell nie auf.
In einem anderen Leben – einem redlichen, nicht dermaßen verpfuschten Dasein – hätte Warden Dios inbrünstig gehofft, nie wieder irgend etwas von der Posaune zu sehen oder zu hören.
Im wirklichen Leben jedoch mußte er sich gegenteiligen Hoffnungen hingeben.
Er brauchte Morn Hyland. Hier und jetzt.
Weshalb sonst hatte er Holt Fasners direkter Anweisung zuwidergehandelt, indem er Morn und Davies Hyland ein Mittel zuspielte, mit dem sie sich gegen Nick Succorso behaupten konnten? Das ihnen die Chance gab, zur Erde heimzukehren? Zu einem schrecklichen Preis hatte er eine Bresche in Holt Fasners Unangreifbarkeit gestoßen – eine winzige, zudem kurzlebige Lücke in der normalerweise undurchdringlichen Wehr des Drachen. Aber es war unwahrscheinlich, daß es Koina Hannish gelang, diese Lücke allzu lange offenzuhalten.
Ohne Morn Hyland – und ohne konkrete Beweise, die Hashi Lebwohl oder Sicherheitschef Mandich besorgen sollte mußte sie zwangsläufig scheitern.
Und falls es zur physischen Vernichtung des Regierungskonzils kam, mochte der Ausgang der Krise genau konträr zu dem Ergebnis stehen, das Warden Dios mit solcher Mühe angestrebt hatte. Eventuell wurde Holt Fasner zum Alleinregierenden. Gab es das EKRK nicht mehr, existierte gegenwärtig keine andere Machtzentrale als die VMK,
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