An den Springquellen
1.
Aemogard nennen sie in Ash’Caron den Mythenstein.
Uralt und verwittert sind die Schriftzeichen in seiner narbigen Flanke.
Schwarz wächst stinkendes Moos in den Rillen der Runen.
Wagt sich ein kühner Wanderer zum äußersten Rand von Ash’Caron, vermag er, so sein Auge scharf und ungetrübt ist, einen Teil der Runen zu lesen und zu deuten. Uralt sind die Worte und bedeutungsvoll. Unbekannte Steinmetze hatten sie mit grünspanigem Kupfermeißel eingegraben.
Es war zu lesen:
EINST WIRD KOMMEN DIE STUNDE DES LICHTES. MONDE UM MONDE, JAHRE UM JAHRE, DUTZENDE VON MENSCHEN-ALTERN WERDEN VERGEHEN. ABER NUR DER KÜHNE UND MUTIGE, DER DAS NIEMANDSLAND BEZWANG, VERMAG DIE MAUER DER ALTEN WELT ZU ERREICHEN. DURCH TAUSEND MARTERN UND PRÜFUNGEN WIRD ER RENNEN, GEHETZT VON ERGRIMMTEN DÄMONEN UND VON BÖSER UNRAST TIEF IN SEINEM HERZEN.
SEIN ZIEL WIRD SEIN: ABGESCHIEDENHEIT, EINSAMKEIT UND VÖLLIGES ENTSAGEN. UND WENN ER DIE SIEBENUNDSIEBZIG GRAUSAMEN TODE DER SPRINGENDEN QUELLEN ÜBERLEBT, WIRD ER EINTREFFEN ALS EIN GEZEICHNETER. DARUM, FREMDER, LASSE DICH ERSCHRECKEN VON DER WARNUNG. LIES UND FLIEHE DIESEN ORT. ODER TRITT NÄHER UND STIRB. WENN DU ES VERMAGST, VERSUCHE, DEM TOD UND SCHLIMMEREM LOS ZU ENTKOMMEN.
ERSTARRE IN FURCHT, FREMDER!
Vierundzwanzig Hufe und die breiten Metallbänder der Felgen erzeugten dumpfe Wirbel und grell rasselndes Geräusch auf dem kaum kenntlichen Weg. Kraftvoll spielten die Muskeln der frischen, grauen Pferde unter ihrer Haut. Immer wieder rissen sie die Köpfe hoch und prusteten voller Kraft und Energie. Nur Necron vermochte nicht, in die gute Stimmung seiner Tiere zu kommen. Seine Laune war wie sein schwarzes Samtgewand: voller Löcher, voller Schmutz, fadenscheinig und stumpf. Trotz aller Erfolge fühlte er, wie hoch über ihm, in dem düsteren Himmel eine riesige Hand mit spitzen Krallen auf ihn zielte und sich gierig zu krümmen begann.
Necron steuerte seinen Schrein nach Westen, den Grenzen von Odams Reich entgegen. Vor ihm lag eines der wichtigen Ziele der Reise. Es war die Werkstatt des Kleidermachers Lodar. »Schneller, meine tapferen Grauen!« rief der Alleshändler, nur um wieder einmal eine menschliche Stimme zu hören.
Mit Odam würde er seine Schwierigkeiten haben.
Seit der Prinz der Düsternis, so wußte es Necron von Miesel, dem Fledderer, eine wunderschöne Braut an seiner Seite hatte, war er verändert. Die Art der Veränderung kannte Necron nicht, aber er bezweifelte, daß sie für ihn von angenehmer Natur sein konnte.
Wie dem auch sei, dachte der Alleshändler – es nützte nichts. An der Grenze zu Odams Reich lebte der Kleidermacher, und dort lag sein Ziel. Argwöhnisch drehte er den Kopf hin und her. Seine scharfen Augen durchforschten die düstere Umgebung. Er sah nur den riesigen Felsen und zwischen den Eisenbäumen die Fladen der ewig hungrigen Mooskröten.
»Laßt uns das Leben genießen«, sagte er ein wenig grimmig zu sich selbst und dachte daran, daß er in wenigen Tagen wieder neue, magisch angemessene Kleidung aus schwarzem Samt besitzen würde.
Als hätten sie verstanden, wieherten zwei der Zugpferde.
Die Zone, durch die der Schrein sich jetzt bewegte, war gefährlich. Das Leben der unersetzlichen Graupferde und das eigene hing davon ab, daß Necron die Gefahren rechtzeitig erkannte und ihnen auf die richtige Weise auswich.
Keinen Augenblick lang durfte Necrons Wachsamkeit nachlassen.
Auch nicht jetzt, im Sichtbereich des riesigen Felsens. Rechts und links des Pfades bewegten sich die Mooskröten. Es waren keine Tiere, sondern Pflanzen, aber sie blieben ebenso gefährlich wie kleine Raubtiere. Unablässig bewegten sie sich und verschmolzen miteinander. Dann zerteilten sie sich wieder in größere und kleinere bucklige Fladen, die wie Kröten aussahen. Unter ihren haarfeinen Wurzeln verschwand alles, worüber sie krochen: Gräser, alte Blätter, kleine weiße Insekten und Würmer. Sie würden auch binnen kurzer Zeit die Hufe und die Fesseln der Pferde auflösen. Deswegen galt es, bis zum Felsen im scharfen Trab zu bleiben. Die Peitschenschnur krachte, und ihr Knallen weckte auf der ebenen Fläche zahlreiche Echos zwischen den Eisenbäumen.
»Schneller, meine Grauen!« rief der Alleshändler.
Die Fladen der krötenähnlichen Moosbuckel gaben ein zischendes Knistern von sich. Je mehr sie fraßen, desto schneller vermehrten sie sich. Aber nie verließen sie die runde Ebene mit den ausgezackten Rändern.
Schneeweiß
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