An und für dich
»Hättest du nicht Lust, ihm das bei einem gemeinsamen Mittagessen so richtig schön unter die Nase zu reiben? Lass uns den Avondale-Neustart feiern. Der Kunde und die Agentur. Morgen passt gut bei mir. Reservierst du uns was? Ich hatte an dieses neue Restaurant gedacht, das 365.«
Überall, nur nicht dahin, dachte Saffy. Die Vorstellung, nach dem Desaster am Valentinstag noch einmal dort aufzutauchen, war einfach unerträglich. Trotzdem zwang sie sich zu einem Lächeln. »Klingt super.«
Harry Burke, der Managing Director von Avondale, war ein Großindustrieller, sonnengebräunt vom Golf und – wie Simon es ausdrückte – ein Womanizer. Ali, seine Marketingmanagerin, war eine herzliche, blonde Frau mittleren Alters. Sie hatte ein Alkoholproblem und das lauteste Lachen, das Saffy jemals gehört hatte. Sie grölte bereits, bevor der Wein kam.
»Heilige Makrele!« Sie zeigte auf ein Bild an der Wand, auf dem eine nackte Frau in eindeutiger Pose mit einem Fisch zu sehen war.
Saffy biss sich auf die Lippe. Das letzte Mal hatte sie dieses Bild gesehen, als sie darunter auf Greg gewartet hatte.
Vicky betrachtete es. »Ich glaube, das soll eine Sardine sein. Oder ein ziemlich dünner Barsch.«
»Meine liebe Scholle!«, rief Harry. Alle bis auf Ant taten, als wäre das der beste Witz aller Zeiten. Das würde ein sehr langes Mittagessen werden.
Es gab Champagner, dann Wein, anschließend Dessertwein, und als Ali die zweite Runde Bellinis bestellte, waren nur noch wenige Gäste im Restaurant. Mike war eingeschlafen. Er hatte die Krawatte gelockert und die Schuhe ausgezogen. Seine Socken hatten Löcher an den großen Zehen. Saffy dachte eifersüchtig, dass seine Frau diese Sockenlöcher anscheinend nicht mehr bemerkte. Das machte eine Ehe aus. Jemanden so sehr zu lieben und so lange, dass man die Löcher nicht mehr bemerkte.
Marsh lehnte sich in ihrem Missoni-Kleid an Simon. Sie sah aus wie eine hübsche, welkende Blume. »Hast du schon mal jemanden so leidenschaftlich geküsst«, fragte sie ihn, »dass du hinterher blutige Lippen hattest?«
Harry hatte den Arm auf Vickys Stuhllehne gelegt und erzählte ihr, dass sie ihn an Kate Bush erinnere. »Irres Lungenvolumen«, hörte Saffy ihn sagen. »Sieht im Gymnastikanzug sensationell aus.«
Ali, mit einem winzigen Vorsprung die Betrunkenste am Tisch, unterhielt sich mit Ant über Tote.
»Wo gehen die hin?« Sie fuchtelte mit den Armen. »Was machen die den ganzen Tag?«
Falls Ant die Antwort wusste, behielt er sie jedenfalls für sich.
»Die Nonnen in der Schule haben mir immer gesagt, wenn jemand stirbt, kann er über einen wachen.« Ali tat so, als würde sie Ant durch ein Fernrohr betrachten. »Das habe ich nie vergessen. Auf dem Klo oder in der Badewanne habe ich immer das Gefühl, alle Toten, die ich kenne, sehen mir dabei zu.« Sie kicherte. »Meine Oma und mein Opa, mein Onkel Finbarr, und nun auch meine liebe Mammy und mein Daddy.« Ihre Augen füllten sich plötzlich mit Tränen.
Sie wandte sich Saffy zu. »Man ist nicht endgültig erwachsen, bis die eigenen Eltern sterben. Egal, ob man zwanzig oder fünfzig oder neunzig ist, wenn es passiert. Ab diesem Tag ist man wirklich allein. Ist deine Mammy schon tot?«
Saffy schüttelte den Kopf.
»Du Glückliche. Und dein Daddy?«
Saffy zögerte. Sie wusste nie, was sie auf diese Frage antworten sollte. Ihr Vater hatte seit mehr als dreißig Jahren keinen Kontakt mehr zu ihrer Mutter gehabt. Er konnte ebenso gut noch leben wie schon tot sein. Sie kannte ihn nicht und war ihm nichts schuldig. Es wäre leichter gewesen, einfach zu behaupten, er wäre tot, als zuzugeben, dass sie keine Ahnung hatte, aber das konnte sie nicht.
»Ich weiß nicht …«, setzte sie an. Aber Ali hatte ihre Frage schon längst wieder vergessen.
»Ich weiß ein Spiel! Das mit den Pornodarstellernamen!« Sie strahlte. »Also. Ihr nehmt den Namen von eurem ersten Kuscheltier und der Straße, in der ihr aufgewachsen seid. Ich wäre dann Fluffy Stigh Lorgan.« Sie prustete los und zeigte auf Ant. »Wie würdest du heißen?« Ant formte in Vickys Richtung lautlos Worte. Für Saffy sah es aus wie »Selbstmord« oder vielleicht auch nur »Mord«.
Sie flüchtete in die Damentoilette und schloss sich in einer Kabine ein. Sie setzte sich auf den Klodeckel und stützte den Kopf in die Hände. Je länger sie hierblieb, desto weniger Zeit musste sie dort draußen sein, wo die ganze Zeit Erinnerungen an diesen schrecklichen Abend mit Greg auf sie
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