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Traumschlange

Titel: Traumschlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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1
    Der Knabe fürchtete sich. Sanft berührte Schlange seine heiße Stirn. Hinter ihr standen dicht beieinander drei Erwachsene und sahen argwöhnisch zu, sorgsam darauf bedacht, ihre Beunruhigung nicht durch mehr als schmale Falten rund um die Augen zu verraten. Sie fürchteten Schlange so sehr, wie sie den Tod ihres einzigen Kindes befürchteten. Das Flackern des Lampenscheins wirkte im zwielichtigen Zeltinnern nicht eben ermutigend.
    Das Kind beobachtete sie aus Augen, die so dunkel waren, daß man die Pupillen nicht sehen konnte, und so stumpf, daß Schlange selbst um sein Leben fürchtete. Sie streichelte sein Haar. Es war lang und sehr hell, besaß eine gegen seine dunkle Haut auffällige Farbe; für eine Länge von mehreren Zentimetern von der Kopfhaut aus war es ungleichmäßig beschaffen und trocken. Wäre Schlange bereits vor Monaten unter diesen Leuten gewesen, so hätte sie bemerkt, daß das Kind erkrankte.
    »Bringt bitte meine Schachtel«, sagte Schlange.
    Die Eltern des Kindes zuckten beim sanften Klang ihrer Stimme zusammen.
    Vielleicht hatten sie einen Schrei wie von einem leuchtendbunten Eichelhäher erwartet – oder ein Zischen wie von einer glänzenden Schlange. Dies war das erste Mal, daß Schlange in ihrer Gegenwart sprach. Sie hatte nur zugeschaut, als diese drei erschienen, um sie aus einiger Entfernung zu beobachten, als sie über ihre Zunft und ihre Jugend flüsterten; sie hatte nur gelauscht und genickt, als sie zuletzt zu ihr kamen, um sie um Hilfe zu bitten. Vielleicht hatten sie geglaubt, sie sei stumm.
    Der hellhaarige, jüngere Mann hob ihre lederne Schachtel vom Filzboden. Er hielt das ranzenähnliche Behältnis weit von seinem Körper weg und beugte sich vor, um es ihr zu reichen; er atmete flach, die Nasenflügel bebten wegen des leichten Moschusgeruchs, der in der trockenen Wüstenluft hing. Schlange hatte sich schon fast an die Art von Unbehagen gewöhnt, die er zeigte; dergleichen hatte sie schon oft genug gesehen. Als Schlange zugreifen wollte, fuhr der junge Mann zurück und ließ das Behältnis fallen. Schlange sprang auf und konnte es gerade noch auffangen; behutsam stellte sie es ab und sah ihn vorwurfsvoll an.
    Sein Ehegefährte und seine Ehefrau traten vor und berührten ihn, um seine Furcht zu besänftigen.
    »Er ist einmal gebissen worden«, sagte die dunkle, hübsche Frau. »Beinahe wäre er daran gestorben.«
    Sie sprach nicht in einem Tonfall der Entschuldigung, sondern in dem der Begründung.
    »Verzeih mir«, sagte der jüngere Mann. »Es ist...« Er deutete herüber; er zitterte,und es kostete ihn sichtlich Mühe, die Äußerungen seiner Furcht zu beherrschen.
    Schlange blickte flüchtig auf ihre Schulter, wo sie das leichte Gewicht und die leisen Bewegungen unbewußt gespürt hatte. Eine winzige Schlange, dünn wie der Finger eines Säuglings, glitt aus ihrem Nacken und zeigte unter ihren kurzen schwarzen Locken einen schmalen Kopf. Auf gemächliche Weise tastete sie mit ihrer dreigespaltenen Zunge durch die Luft – hinaus, hinauf und hinab, hinein –‚ um die vorhandenen Gerüche zu schmecken.
    »Das ist nur Gras«, sagte Schlange. »Er kann dir nichts tun.«
    Er hätte Furcht erregen können, wäre er größer gewesen; er war von hellgrüner Farbe, aber rund um sein Maul waren die Schuppen rot, als habe er soeben nach Art eines Säugetiers gefressen, durch Reißen. Aber er war erheblich reinlicher.
    Das Kind wimmerte. Es verstummte inmitten des Schmerzlautes; vielleicht hatte man ihm eingeredet, auch Schlange nähme Klagen übel. Sie empfand nur Bedauern darüber, daß diese Menschen sich eine so einfache Möglichkeit, Furcht zu lindern, freiwillig versagten. Sie wandte sich von den Erwachsenen ab, deren Entsetzen vor ihr sie bekümmerte, doch sie wollte nicht die Zeit opfern, die es erfordert hätte, um sie davon zu überzeugen, daß ihre Haltung unberechtigt war.
    »Es ist alles gut«, sagte sie zu dem kleinen Jungen. »Gras ist glatt, trocken und weich, und wenn ich ihn zurücklasse, damit er dich beschützt, kann nicht einmal der Tod dein Lager erreichen.«
    Gras ließ sich in ihre schmale, schmutzige Hand rutschen, und sie streckte ihn dem Kind entgegen. »Vorsichtig.«
    Der Junge hob eine Hand und berührte die geschmeidigen Schuppen mit einer Fingerspitze. Schlange spürte die Anstrengung, die er für eine so gewöhnliche Bewegung aufbringen mußte, doch der Junge lächelte beinahe.
    »Wie nennt man dich?«
    Rasch blickte er zu seinen Eltern hinüber,

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