Analog 07
höchster Not. Zweifacher Vorteil:
Erstens wird meine Psyche gewaschen, getrocknet, zusammengelegt und verstaut, das Gemüt zu üblichem Genie wiederhergestellt, die Aussicht auf erfolgreiches Entkommen und anschließendes Überleben gesteigert. Zweitens werde ich den Archäologen Details über die Gründe für mein vorzeitiges Ableben inmitten einer verwirrenden Masse von Gerätschaften im Schutzraum hinterlassen, sollte erster oben genannter Vorteil sich als nicht ganz so rosig erweisen. (Sorge um Knochengräber zugegeben etwas gezwungen, da in Frage kommende Knochen meine sind!)
Genug geschwafelt. Zeit, alles zu bewältigen, die Seele zum eigenen Besten zu schinden. Neurotisch zu sein ist fast so ermüdend, wie genial zu sein. (Achtung, Archäologen: Schicken Sie leicht zu beeindruckende Jugendliche und/oder gemischte Gesellschaft hinaus – es folgen brandheiße Details.)
Wurde vor elf Jahren in einer Kleinstadt in Wisconsin geboren, als einziges Kind normaler Eltern. Name: Candidia Maria Smith, abgekürzt zu Candy, noch ehe die Tinte auf der Geburtsurkunde trocken war. Früh schon Anzeichen von Atypischsein: Augen schon bei Geburt geradeaus gerichtet, Ursache-Wirkung-Assoziation offenkundig mit sechs Wochen, erste Worte mit vier Monaten, Sätze mit sechs Monaten.
Mit zehn Monaten verwaist. Eltern bei Verkehrsunfall umgekommen.
Keine Verwandten – schaffte Dilemma für Babysitter. Gelöst, als Sozialarbeiter Sorge übernahm. War schrecklich niedliches Baby: in Rekordzeit adoptiert.
Doktor Foster und seine Frau waren gute Eltern: liebevoll, aufmerksam, einander sehr zugetan und zeigten es auch. Sorgten für gute Umgebung während der prägenden Jahre. Dann starb Mama. Nur Daddy und ich übrig. Brachte uns einander sehr nahe. Wurde wahrscheinlich schamlos verwöhnt, aber auch fast erstickt.
War damals kaum fünf, wollte aber lernen , nur, daß Daddy fest umrissene Vorstellungen betreffs angemessener Lerngeschwindigkeit und Regeln für „normale“ Erziehung hatte. War von Frühreife nicht sehr angetan, hielt sie für ungesund, würde zu künftiger Fehlanpassung und Unglück führen. War auch väterlich besorgter Sexist: schlimmer Fall tief sitzender Stereotypie. Zensierte Aktivitäten, Lesen, gebot Einhalt beim leisesten Verdacht auf frühreifes Benehmen oder atypisches Interesse.
Mama war anderer Meinung: half, ließ mich gewähren. Mit ihrer Hilfe lernte ich im Alter von zwei Jahren lesen, verstand grundlegende numerische Verhältnisse mit drei, konnte addieren, subtrahieren, multiplizieren, dividieren. War mir wertvolle Hilfe, bis sie uns verlassen mußte.
Eignete mir das meiste Wissen also heimlich an. Mußte das – war in Kleinstadtklassenzimmer natürlich nicht zugänglich. Stellte keine Schwierigkeiten dar: Entwickelte Schnellesegewohnheit, konnte Oberschultexte in zehn, zwanzig Minuten lesen, typische Bestseller in einer halben oder dreiviertel Stunde verschlingen. Suchte Schul- und lokale Büchereien bei jeder Gelegenheit heim (nur als Besucher, konnte nichts mit nach Hause nehmen). Aber Stadt war klein, zugängliche Quellen vor drei Jahren erschöpft. Habe seitdem von der mageren Ausbeute von geheimen Operationen bei Freunden und in Buchläden, von gelegentlichen Überfällen auf Büchereien in Nachbarorten und Schulen gelebt. Natürlich waren nicht alle diese Raubzüge erfolgreich: Kleinstadtbibliotheken tendieren in dieselbe Richtung, kreisen langsam um sich selbst. Angebot meist seicht, sich wiederholend, an Originalität mangelnd.
Frustrierend. Um so mehr durch das Wissen, daß Daddys Privatbibliothek ohne weiteres mit sämtlichen öffentlichen Büchereien der Stadt konkurrieren konnte (nicht eingerechnet die Schutzraum-Kollektion, von der ich damals noch nichts wußte) – und ich konnte von fünfundneunzig Prozent dessen kaum die erste Seite lesen.
Daddy war Pathologe: Bücher undurchdringlich wissenschaftlich. Gingen so weit über mein Niveau, daß ich nicht mal sagen konnte, woran es bei mir fehlte. (Fragen Sie mal einen Kannibalen, der gerade frisch vom Amazonas eingeflogen wurde, nach der Analyse von Ausbildungsmängeln, die das Nichtverständnis für Strukturen im Bankwesen verursachen.) Texte hochkomprimiert, gedacht für Leser mit bereits hochklassigen Fähigkeiten. Trauriger Mangel derselben in eigenem Fall: Ergebnis einer Verschwörung. Schmachtete also dahin, tropfenweise genährt, unermüdlich nach neuen, zugänglichen Quellen forschend.
Einzige strahlende Ausnahme: Soo Kim
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