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Analog 6

Analog 6

Titel: Analog 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Alpers
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übersetzen mußte. Sogar während des Essens mußte sie lernen. Ihre Gebete führte sie an der Seite einer Übersetzungslehrerin aus, die selbst während dieser Zeit von allen anderen Pflichten entbunden wurde. Sie beseitigte ihre Abfallstoffe, striegelte ihren Panzer und die unterteilten Gliedmaßen, verstaute ihre noch ungeformten und nicht lebensfähigen Eier im dafür vorbereiteten Lehm und nahm alle Mahlzeiten mit Gesellschaftern ein, die ihr ununterbrochen zublitzten. Und wenn sie am Morgen die müden Augen zum Schlaf schloß, sah sie vor dem geistigen Auge immer noch die Symbole und versuchte, sie zu entziffern. Das ewige Umber, Roe, Beinschwarz, Umber, Beinschwarz, Rose, Umber, Rose, Beinschwarz … das ständige drei, zwei, zwei, drei, eins, drei, drei, vier, eins, drei, zwei, vier, vier … das niemals endende oben-ausblenden, oben-scharf, links-ausblenden, unten-ausblenden, rechts-scharf, unten-scharf … das langwierige und unzusammenhängende vier rechts-scharf Rose, zwei links-ausgeblendet Umber, eins unte-nausgeblendet Beinschwarz …
    Sie hatten sie von der Hütte ihres Brutschützers in den kalten Steintempel übersiedelt. Die Flure quollen über von anderen Studenten, Meßgehilfen und Geweihten, doch Wink war allein mit ihrem einzigartigen und einseitig ausgerichteten Intensivkurs, und sie lebte auch allein in einem winzigen Kämmerchen. Manchmal sehnte sie sich danach, auszureißen und, so schnell sie ihre sechs Beine trugen, zur Wohnung des alten Langfühler zu eilen, um der Dienerschaft zu entsagen und endlich wieder frei mit Rot, Gimpe und ihren anderen Freunden scherzen zu können.
    Doch dann wurde sie wieder von der Hingabe an ihre Pflicht übermannt. Drei links-scharf Beinschwarz …
    Sie mußte allen anderen Interessen entsagen. Sie lebte nicht nur von ihren Brutgefährten und Kameraden getrennt, was an sich schon eine große psychologische Belastung darstellte, sondern sie mußte darüber hinaus auch noch jede intellektuelle Beschäftigung einstellen, die in keinem direkten Zusammenhang zu ihrer Aufgabe der Kommunikation mit Gott stand. Der Hohepriester konnte seine Ungeduld kaum ihren Fortschritten angleichen, doch verglichen mit dem, was andere im selben Zeitraum erreicht hätten, konnte er ihr wahrlich keinen Vorwurf machen. Doch er hatte sein Leben den Diensten Gottes verschrieben, und daher wurmte es ihn, daß er nicht unverzüglich einen Schüler herbeischaffen konnte, der den Wünschen von Ös entsprach. Wink konnte zusehen, wie ihre Kindheit binnen weniger Tage hinter ihr zurückblieb, nicht in den Jahren, die ihr normalerweise noch verblieben wären. Die Möglichkeit zu einer normalen Entwicklung und Reife wurde ihr für immer genommen.
    Doch sie tat ihr Bestes, ihr inneres Auge niemals von den Worten des Hohepriesters abzuwenden: „… ein weitaus größeres Abenteuer …“
     
    Im Westen verblaßten die letzten Lichtstrahlen, die Sterne erschienen in zahllosen Choralschwärmen und sangen ihr hohes, herrliches, unverständliches Sphärenlied. Wink kam langsam aus ihrer dunklen Kammer hervor und bahnte sich ihren Weg durch die verschlungenen Flure zur großen Kühlnabe. Ihre Klauen klapperten auf den nassen Steinen, während sie zum Altar hinabschritt. Die Diener Gottes erwarteten sie dort, ihre Psalmen und Gebete schimmerten und funkelten. Sie ging an ihnen vorüber und kletterte am Altar – dem Dock – zu dem kleinen Ruderboot hinab, wo sich ihre beiden Ruderer bereits eingefunden hatten, jüngere Meßdiener, die vor Ehrfurcht ganz dunkel waren. Diese verstanden die Gottessprache nicht. Die Ruder tauchten ins Wasser ein.
    Weit draußen auf dem dunklen Wasser wurden sie wieder eingezogen. Das Boot schaukelte. Von Gott war keine Spur zu sehen. Am fernen Ufer ragte undeutlich der Tempel auf; die Priester hatten ihre Rituale beendet.
    Wink vergewisserte sich, daß ihre Gefühle nicht auf dem Panzer zu sehen waren, nahm allen Mut zusammen und sang dann Gottes heiligen Namen, das lange, purpurne Glühen mit einer oberen Harmonie ins Ultraviolette. Die Wasser des Sees akzeptierten ihn, verbreiteten ihn …
    … Minuten verstrichen. Wink saß still und hörte nichts. Sie hielt den Ruf und ihre ehrfürchtigen Gedanken aufrecht. Dann wuchs langsam die unbehagliche Gewißheit, daß sie beobachtet wurde. Ihre Augenfühler schwenkten in alle Richtungen. Nichts. Doch immer noch erglühte sie in den oberen Frequenzen, doch der Schein wurde dunkler. Man merkte ihr die Anstrengung

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