Anarchy in the UKR
nächsten, auf den ersten Blick ist sie wirklich ruhig, die Metro, im Sommer kühl und im Herbst warm, tagsüber immer voller Menschen, nachts ist es hier ganz leer, nur die Putzfrauen mit ihren steifen Schürzen und langen Schläuchen spülen Rosenblätter und Blut von den Treppen; wenn du aus dem letzten Zug aussteigst und nach oben gehst, läuft dir schmutziges Wasser über die Füße, als hätte draußen gerade ein warmer Mairegen eingesetzt, der so stark ist, daß die Kanalisation unmöglich all das Wasser aufnehmen kann und von Rosenstengeln, Reklamezetteln und aufgeweichter Zuckerwatte verstopft, das Wasser steigt, überflutet Fußwege und den Platz und stürzt schließlich in die Metro, zu Beginn ein schmales, schwarzes Rinnsal, das auf halbem Weg versiegt, dann kräftigere Wellen, die unten, in den Übergängen, die Zeitungsstände wegspülen, schließlich ein richtiger Kristallstrahl, der die Nischen der Metrostation füllt wie Quecksilber das Thermometer.
Mir kam es immer so vor, als könnte die Metro Schatten und Stimmen, Figuren und Leben in sich aufnehmen, sie ist offen dafür, eines Tages, wenn du hergekommen, ganz nach unten gestiegen bist, kannst du nicht mehr raus, du verirrst dich in einem Übergang, noch bevor du an deiner Station angekommen bist, ich vermute fast, da stecken sie – alle, die plötzlich verschwunden sind, die überraschend und wider Erwarten aus diesem Leben herausgefallen sind, die U-Bahn versteckt sie alle, bis bessere Zeiten anbrechen, bis der richtige Moment kommt und sie sich raus trauen, zurück in ihr red down town , in dem sie es seinerzeit nicht mehr ausgehalten haben.
Das Leben könnte locker in den U-Bahn-Waggons weiter gehen, in den Stationen und Übergängen; wenn du jeden Morgen nach unten fährst, durch das Tor gehst, an dem seinerzeit ein großer Metallkopf des blutigen Felix hing, weißt du nicht einmal, mit wem du heute in dieselbe Richtung fährst, ja, du weißt nicht einmal, daß ihr in verschiedene Richtungen unterwegs seid, obwohl ihr in demselben Wagen sitzt. Die Welt der Toten atmet die gleiche Luft wie du, tu bloß nicht so, als bemerktest du das nicht, das ist nur eine Frage der Zeit, irgendwann kommst du hierher, jemand bietet dir seinen Platz an, du bekommst gar nicht mit, wie das passiert, du steigst einfach hier aus und wartest auf bessere Zeiten.
Jede Fuge in der Wand, jedes Zeichen auf den Feuerlöschventilen und Kanaldeckeln, jede Durchsage, die unter den hohen Gewölben der Station Universität dröhnt, stecken voller Informationen über ihre Bewegung auf deinen Routen, eure Routen kreuzen sich pausenlos, sie kreuzen sich an den stillsten und überfülltesten Stellen, irgendwo genau hier, in der Nähe des Platzes, wo viel Sonne und Luft sind, wo ihr euch zu Lebzeiten begegnet seid und euch natürlich auch nach dem Tod begegnet, es spielt doch sowieso keine große Rolle, alle – die schon weg und die noch da sind – haben eine einzige Metro, mit drei Linien, mit ein paar Dutzend Haltestellen, mit Übergängen und unterirdischen Depots und einem einheitlichen Kontrollsystem, das sich nicht umgehen läßt, wie sehr du dich auch anstrengst.
Ich kann mir vorstellen, wie sie zurückkommen, das geschieht aller Voraussicht nach im Sommer, wahrscheinlich im August, ja, Ende August, an einem trockenen und sonnigen Augustmorgen, um 5.30 Uhr, mit dem ersten Zug, die Türen gehen auf, und sie steigen alle aus – alle, an die du dich erinnerst und die du schon vergessen hast, alle, die dir gefehlt haben und deren Erscheinen du so gefürchtet hast, mit diesem oder jenem haben sich deine Wege da unten gekreuzt, ohne daß du gemerkt hast, daß sie, im Unterschied zu dir, gleich unten geblieben waren, sie werden in die warme Augustluft hinaustreten, an einem frischen Morgen in Charkiw, hinein in das lange, gleichmäßige Leben und es mit ihren Stimmen erfüllen, ihrem Atem, ihrer Anwesenheit, ihrem Tod.
10. Die Südseite des Nordens.
Der Haupteingang des Bahnhofs, Treppen mit Säulen, traditioneller Treffpunkt für fröhliche und unerschrockene Wanderer, die sich hier verabreden, um nicht durch die Wartesäle oder über die endlosen Bahnsteige dieses riesigen Eisenbahnknotens zu irren. Touristen mit lächelnden Gesichtern, der feste Druck von Männerhänden, muntere Frauenstimmen, Rucksäcke und Schlafsäcke, endlich sind alle da, Witze machen über die Zuspätkommen die Truppe setzt die Rucksäcke auf, geht durch die Halle und betritt Bahnsteig
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