Anarchy in the UKR
tilgen, noch alle Skulpturen von den Dächern meiner Stadt beseitigen, sie kann die Schriftzüge und Losungen nicht löschen, wie man Tätowierungen mit Säure löscht, sie kann nicht mehr, sie ist nicht gut genug, und vor allem fehlt ihr der Ersatz für diese ausgewogene visuelle Reihe, die dem früheren Land diente in seinem Drang nach vorn, hinein in den gelben leeren Sand des Vergessens. Seltsame Ruinen sind von alldem geblieben, Häuser mit den Geistern von Erhängten, Routen für den kollektiven Sextourismus, all diese Kulturpaläste, Hochzeitspaläste, Pionierpaläste, der unangebrachte Frohsinn des jungen sozialistischen Modells, das wie eine neue Dampfmaschine vom eigenen Adrenalin explodiert ist, im Gedächtnis Bruchstücke zurücklassend, an denen das Himbeerblut der Forscher klebt.
Wodurch lassen sich die Kulturpaläste und die Pionierpaläste ersetzen? Natürlich geht es nicht um die Paläste als solche, es geht nicht einmal um ihre Funktion, sondern um die Tausende von Jugendlichen, zu denen nicht nur ihre Paßangaben gehören, sondern viel mehr, jedem gehört etwas viel Wichtigeres, die eigene Biographie zum Beispiel. Wer will es wagen, ihnen die Biographie zu stehlen? Und welchen Ersatz will er bieten?
Wenn du erwachsen wirst, entdeckst du, daß dir bestimmte Dinge und Begriffe, Gegenstände, Gebäude und ganze architektonische Ensembles unentbehrlich geworden sind, sie stehen plötzlich vor dir und bleiben lange, wenn nicht sogar für immer, in deinem Bewußtsein. Das sagt sich so hin – Pionierpalast, dahinter steht doch das zerstückelte Fleisch der Zeit, ihr herausgerissenes Gedärm, an dem sie sich erhängt hat. Versuch es, ruf dir auch den kürzesten Augenblick in Erinnerung – kaum hast du angefangen, steigen auch schon die warmen Stengel deiner Kindheit hinter dir auf wie der Rauch eines abgeschossenen Jagdflugzeugs, die reifen Früchte deines Hineinwachsens, deines Unterwegsseins, deines Verlorenseins im Leben.
Die Kulturpaläste, die von den Gewerkschaften der Rüstungsbetriebe unterhalten wurden, große Säle mit schlechter Beleuchtung und schweren Vorhängen, die ständig klemmten und sich nicht öffnen ließen, Notausgänge hinter der Bühne, kleine Zimmer, vollgestopft mit selbstgebauten, meist geklauten Apparaturen, kleine Probebühnen – Kaderschmieden sozusagen –, wie viele solcher Gebäude waren über ganz Charkiw verteilt, von Kindheit an habe ich mich in diesen Palästen herumgetrieben, ich gehe auch jetzt noch gern hinein, obwohl von den verrückten Bewohnern fast keiner mehr da ist, es keine Pionierhelden mehr gibt, die die Kulturzentren besetzten, bis zum Schluß darin ausharrten und sich nicht räumen ließen.
Einer dieser Kulturpaläste steht gegenüber dem Kaufhaus. Er war immer schlecht zu erreichen, höchstens mit der Straßenbahn. Früher, in meinem anderen Leben, bin ich hier oft auf Konzerte gegangen, mit mehrmaligem Umsteigen und Hunderten Gleichgesinnter, wir quälten uns durch die ganze Stadt, um zusammenzusein, uns festzuhalten, das fröhliche, wahnsinnige Ellenbogengefühl, selbst wenn sich dir dieser Ellenbogen in die Nieren bohrt. Wir kamen an, die Straßenbahnen standen still wie ein Herz, der Pionierpalast in friedlicher Herbstdämmerung, in den Korridoren roch es nach Haschisch und Klo. Diese Konzerte mußte man gesehen haben, um so mehr, als es unmöglich war, sie zu hören.
Nun ist es zehn Jahre her, seit die selbst veranstalteten Konzerte vorbei sind, seit sie die Metro hier heraus gelegt haben, jetzt kommt keiner mehr, zufällig hat es mich mal wieder in diesen Kulturpalast verschlagen, merkwürdige Situation – ich sollte selbst ein Konzert geben, alles war okay, bis auf den kleinen Schönheitsfehler: es gab keinen Raum. Ich lasse mich jetzt nicht aus über Aktionen der Opposition, verschreckte Direktoren, die verfuckte Gesellschaft, die vor sich selbst Schiß hat, denn was gibt's da groß zu erzählen, das wißt ihr auch so, aber das Problem verkomplizierte sich dadurch, daß das Konzert um sieben Uhr abends beginnen sollte, das stand zumindest auf den Plakaten. Mittags um zwölf gab es noch keinen Raum.
Und hier kam mir auf einmal der gute alte Kulturpalast in den Sinn, wie kann das sein, dachte ich, während der Sowje sind hier doch herrlich asoziale Sachen gelaufen, damals, in den fernen Zeiten, als die Megamaschine gerade ihre ersten Pannen hatte, der Punk endgültig und unwiderruflich siegte, kann doch nicht sein, daß die mich jetzt hier
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