Einklang der Herzen
1. K APITEL
Adelia Cunnane starrte aus dem Fenster, ohne die wundervollen Formen der Wolken zu bemerken. Manche schwebten als Berge, andere als Gletscher, vorüber oder sie verschmolzen zu eisverkrusteten Seen.
Doch obwohl sie zum ersten Mal in einem Flugzeug saß, fand Adelia den Ausblick nicht sonderlich interessant. Ihr Kopf war voll mit Zweifeln und Fragen, zudem hatte sie schon jetzt schreckliche Sehnsucht nach der kleinen Farm in Irland.
Aber sowohl die Farm als auch Irland waren bereits sehr weit entfernt. Jede Minute, die verging, brachte sie Amerika näher – und völlig fremden Menschen. Nichts in ihrem Leben hatte sie darauf vorbereitet. Adelia seufzte.
Ihre Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als sie zehn Jahre alt war. Die ersten Wochen hatte Adelia wie in einer Art Nebel verbracht. Sie hatte sich in sich zurückgezogen, um die Trennung nicht zu spüren, das fremde und beängstigende Gefühl der Verlassenheit. Langsam hatte sie eine Mauer um ihren Schmerz errichtet. Und sie hatte sich in die Arbeit gestürzt wie eine Erwachsene.
Lettie Cunnane, die Schwester ihres Vaters, übernahm die Verantwortung sowohl für die Farm wie für das Kind, und das mit strenger Hand. Sie war keine unfreundliche Frau, aber auch keine liebevolle. Geduld gehörte nicht zu ihren Stärken, sie hatte wenig Verständnis für das unberechenbare, manchmal auch aufbrausende Kind ihres Bruders.
So blieb die Farm im Grunde das Einzige, was Adelia und ihre Tante verband. Sowohl die ältere Frau wie auch das Kind bauten eine enge Beziehung zu dem fruchtbaren, dunklen Boden auf, der ihre ganze Arbeitskraft forderte.
Fast dreizehn Jahre lebten und arbeiteten sie zusammen, bis Lettie einen Schlaganfall erlitt. Adelia musste sich daraufhin allein um die Farm und um ihre gelähmte Tante kümmern. Tag und Nacht kämpfte sie ums Überleben. Sie hatte ständig zu wenig Zeit und zu wenig Geld.
Als sie nach sechs langen Monaten wieder einmal allein zurückblieb, war Adelia vollkommen verzweifelt und erschöpft. Obwohl sie unaufhörlich geschuftet hatte, war sie gezwungen, die Farm zu verkaufen.
Sie hatte ihrem einzigen lebenden Verwandten, dem älteren Bruder ihres Vaters, geschrieben, um ihn über den Tod seiner Schwester in Kenntnis zu setzen. Padrick war vor zwanzig Jahren nach Amerika ausgewandert. Er hatte umgehend mit einem warmherzigen Brief geantwortet und mit dem schlichten Satz geendet: »Komm nach Amerika! Dein Zuhause ist nun bei mir.« Also hatte sie ihre wenigen Habseligkeiten gepackt und sich von Skibbereen verabschiedet und dem einzigen Heim, das sie jemals gekannt hatte.
Ein plötzliches Absacken des Flugzeugs riss Adelia aus ihren Gedanken. Sie drückte sich in ihren Sitz und berührte das kleine goldene Kreuz, das sie immer um den Hals trug. In Irland wartet nichts und niemand mehr auf mich, dachte sie, während sie gegen ein flaues Gefühl im Magen ankämpfen musste. Padrick Cunnane war die einzige Familie, die sie noch hatte, und die einzige Verbindung mit ihrer Vergangenheit.
Sie versuchte, die plötzlich aufsteigende Furcht zu bezwingen. Amerika oder Irland – was für einen Unterschied machte das schon? Sie würde zurechtkommen, wie immer. Auf keinen Fall wollte sie ihrem Onkel zur Last fallen, diesem fast fremden Mann, den sie nur aus Briefen kannte und zum letzten Mal gesehen hatte, als sie kaum drei Jahre alt gewesen war. Sie würde schon einen Job finden, überlegte sie, vielleicht auf dem Gestüt, von dem Paddy so oft geschrieben hatte. Mit Tieren zu arbeiten lag Adelia im Blut. In den letzten Jahren hatte sie sogar medizinische Kenntnisse hinzugewonnen; oft hatten Nachbarn sie zu einer besonders schweren Geburt eines Kalbes gerufen oder sie gebeten, eine Wunde zu nähen. Sie war vielleicht nicht besonders groß, aber stark – und sie war eine Cunnane. Bei diesem Gedanken straffte sie die Schultern.
Bestimmt gab es für sie eine Stelle auf Royal Meadows, wo ihr Onkel als Trainer für Rennpferde arbeitete. Zwar wurde dort wahrscheinlich niemand gebraucht, der Felder pflügen oder Kühe melken konnte, aber wenn es darauf ankam, würde sie ihren Lebensunterhalt auch als Küchenmädchen verdienen. Mit gerunzelter Stirn überlegte sie, ob es in Amerika überhaupt Küchenmädchen gab.
Das Flugzeug landete, Adelia stieg aus und betrat den Dulles International Airport in Virginia. Sie war fasziniert von den vielen Menschen und den verschiedenen Sprachen, die um sie herumschwirrten.
Sie
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