Anarchy in the UKR
Morgen lagen wir wieder im Gras neben der Schnellstraße und warteten auf irgendeinen Bus. Die Schnellstraße Donezk-Zaporizhzhja erwärmte sich von der Sonne, der Himmel war niedrig und klar, aber in ihm schwang schon die Trockenheit des Herbstes, noch ein paar Wochen, und der richtige Herbst würde beginnen, der Saft in den Gräsern wurde bitter von dieser Vorahnung, die Erde war warm und die Luft unbeweglich. Ich lag und wollte nicht aufstehen, ich wußte, daß es mein letztes Gras, die letzte warme Luft in diesem Jahr war, ich komme wohl kaum noch einmal an diese Straße, ich werde wohl kaum noch einmal hier liegen, zumindest nicht in diesem Leben. Davon wurde es besonders warm. Eine halbe Stunde später hielt Weiß ein Auto an und fuhr nach Hause. Noch etwas später hielten wir einen Bus an und fuhren in die entgegengesetzte Richtung.
Teil Zwei
Meine Achtziger
1981 Kino.
Meine Achtziger lassen sich leicht verfilmen. Wenn hierzulande wieder Kino gemacht wird, würde ich gern einen Film über meine Achtziger drehen, vielleicht einfach, um auf der Leinwand darzustellen, wie mein Leben noch hätte verlaufen können – als ein strenges und klares Schema, in dem von Anfang an alle notwendigen Ursachen und möglichen Wirkungen angelegt sind. Der Film hätte ein bißchen was Didaktisches und ein bißchen Unterhaltung, möglichst wenig Pathos und nostalgisches Gesülze. Statt dessen gäbe es Sonne, viel Technik, viel Fabrikarbeit, die soziale Komponente wäre ausreichend berücksichtigt, alles wäre an seinem Platz – die Laster, die Eisenbahndepots, das Gras am Wegesrand, die Kiefern am Sommermorgen, die Kaufhäuser, die Vorstadtbahnhöfe, die ausgekühlten Kinosäle, die Zeitungskioske, die Schulturnhallen mit Matten und Trampolins, die Kohlenzüge, die Linienbusse, die leeren Schnellstraßen, die Tanks mit dem eiskalten Wasser, die Schallplattenkioske, die Schaschlikbuden, die Schlangen an den Karussells, die Taschendiebe, die verrückten Alkoholiker, die Kleinstadthuren, die fröhlichen Händler, die Spekulanten und Filmvorführer, die Wanderbibliothekare mit ihren Bauchläden und die professionellen Zigeunerinnen, die auf den Straßen und Basaren Steuern eintreiben – in dem Film gäbe es viele positive Figuren und negative gäbe es überhaupt nicht, jedenfalls wollte ich sie nicht in dem Film haben. Mehr noch, in so einem Film würden auch die potentiell negativen Figuren, wie z.B. die genannten Händler oder die nicht genannten Hooligans, auf jeden Fall als Helden dargestellt, vielleicht nicht als positive, aber zumindest mit bestimmten Tugenden, zweierlei Maß, wie heute oft üblich, kommt für meinen Film nicht in Frage, es ist überflüssig und unpassend, weil es überall überflüssig und unpassend ist und beim Film um so mehr. Was noch? Das Wetter sollte gut sein, der Film spielt im Sommer, meine Achtziger, das ist größtenteils Sommer, vielleicht später Frühling, aber doch besser Sommer; viel Wasser müßte es geben, viel Grün, auf keinen Fall Politik, die Politik kam erst später, in den Neunzigern; damals gab es keine Politik, die Welt hielt sich an ihre Grenzen und ging nicht darüber hinaus, das Leben genügte sich selbst, auf das Land konnte man stolz sein, an den Eltern konnte man sich ein Beispiel nehmen, die Propaganda nervte nicht, gesellschaftlichen Druck gab es keinen.
In meinem Film über die Achtziger gäbe es viel Liebe, spontane Liebe, ungeplante Liebe, Straßenliebe, unlogische Liebe, der erste Sex im Klassenzimmer, die ersten Schlägereien hinter dem Fabrikzaun, die ersten Probleme und Brüche, merkwürdige, unglaubliche Geschichten über die Entführung von Verlobten aus dem Elternhaus, über geheime Hochzeiten, illegale Abtreibungen, über zärtlichen und geilen Teenie-Gruppensex – langsame Schwarzweißbilder, das tiefe und lehrreiche Durchleben der eigenen Jahre, das Gleichmaß der Zeit, die dir jemand gewidmet hat; dann sollen viele verschiedene Stimmen zu hören sein – fröhliche, nervöse, frohe, die Hunderten von namenlosen Helden aus diesem Film gehören, die Helden haben himmelblaue Augen, von der Sonne gebleichtes Haar, gebräunte, trockene Haut, sie schlafen wenig, reden und trinken viel, geraten andauernd in idiotische, unausdenkbare Situationen, die Himmel lachen über sie, die Götter verzeihen ihnen eine Menge, denn in ihren Handlungen ist keine Bosheit. Blödheit – ja, alltäglicher Schwachsinn – ohne Ende, Leichtsinn, Naivität, die angeborene Neigung,
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