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Anastasija 06 - Widrige Umstände

Anastasija 06 - Widrige Umstände

Titel: Anastasija 06 - Widrige Umstände Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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hätte vermutlich nicht sagen können, warum er Nastja Kamenskaja so schonte, sie von allen fern hielt. Aber irgendwo tief in seinem Bewusstsein oder dort, wo der Instinkt sitzt, schlummerte die Überzeugung, dass Nastja seine Trumpfkarte war. Als er das enttäuschte Gesicht seiner Untergebenen sah, musste er plötzlich lächeln.
    »Geh, Mädchen, denk ordentlich nach«, sagte er zärtlich. »Morgen erzählst du mir, was dir dazu eingefallen ist.«
    Als Nastja gegangen war, lief Gordejew wieder im Zimmer auf und ab. Er musste für sich eine schwierige Frage klären: Wie sollte er auf die Hypothese reagieren, der Neffe vom Präsidenten des Fonds zur Unternehmensförderung habe etwas mit der Vergewaltigung der zwölfjährigen Natascha Kowaljowa zu tun? Die Hypothese an sich erschien ihm viel versprechend, aber er mochte seine Männer nicht in politische Zwistigkeiten hineinziehen. Nach kurzem Überlegen beschloss Gordejew, das auf seine Kappe zu nehmen. Er setzte sich ans Telefon und wählte. Er rief seinen alten Bekannten Shenja Samochin in der Pressestelle des Innenministeriums an.
    »Viktor!«, rief Samochin erfreut. »Lange nichts von dir gehört! Rufst du aus dem Büro an?«
    »Ja«, bestätigte Gordejew.
    »Also was Dienstliches«, schloss Samochin. »Sag gleich, was du willst, ich muss in fünf Minuten weg.«
    »Shenja, ich brauche eine Information über Vitali Kowaljow aus dem Apparat von Vizepremier Awerin und über Winogradow vom Fonds zur Unternehmensförderung.«
    »Und eine Villa in Cannes und eine Limousine? Die brauchst du nicht zufällig?«
    »Bitte, Shenja! Ich brauche ja nicht viel. Ich will nur wissen, ob die beiden sich kennen, und wenn ja, wie sie zueinander stehen, wenn nicht, auf welchem Gebiet ihre Interessen sich überschneiden könnten. Das ist alles. Ja, Shenja?«
    »Was denn, keine schmutzige Wäsche?«, fragte Samochin ungläubig.
    »Nein. Mich interessiert nur eine mögliche Verbindung. Machst du das für mich?«
    »Mach ich.« Samochin seufzte. »Ich ruf dich heute Abend zu Hause an.«
    Aber Gordejew wäre nicht Gordejew gewesen, wenn er sich damit begnügt hätte. Nicht umsonst kursierten Legenden über sein Misstrauen. Nicht, dass er anderen nicht glaubte – er war sich lediglich bewusst, dass Wahrheit und Tatsachen bei weitem nicht immer dasselbe waren.
    Nastja ging aus dem Büro ihres Chefs zum Bereitschaftsdienst und sah die eingegangenen Meldungen und das Dienstbuch durch. Niemand hätte genau sagen können, was sie in diesem Wust von Informationen suchte, vermutlich nicht einmal sie selbst. Dennoch schlug sie jeden Tag das dicke Buch auf, schrieb Verschiedenes heraus und machte sich dazu Notizen, die nur sie verstand.
    Zurück in ihrem Zimmer, stellte sie einen Tauchsieder in einen hohen Keramikbecher und wählte eine Telefonnummer im Haus.
    »Mischa, möchten Sie nicht eine Tasse Kaffee mit mir trinken?«
    »Sehr gern, Anastasija Pawlowna. Bin schon unterwegs.«
    Eine Minute später kam Mischa Dozenko herein, in der Hand eine Tasse und eine Packung Würfelzucker.
    »Aber Mischa!« Nastja schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Ich habe Sie doch eingeladen. Ein Gast muss sich nicht selbst versorgen.«
    »Wissen Sie«, sagte Mischa verlegen, »wir haben schwere Zeiten. Man muss auf sich Acht geben, sonst wird man zum Schmarotzer.«
    Nastja schenkte Kaffee ein und schob Mischa eine Tasse und eine Tüte Kekse hin.
    »Mischa, erzählen Sie mir bitte vom Fall Filatowa. Bei der Dienstbesprechung klang das irgendwie . . . na ja, verschwommen. Ich gestehe, ich bin daraus nicht schlau geworden.«
    Dozenko schwieg angespannt, die Augen starr auf die dampfende Tasse gerichtet. Nastja wollte ihre Bitte schon wiederholen, als es sie wie ein Blitz durchfuhr. Natürlich! Dass sie nicht gleich darauf gekommen war! Mischa Dozenko war, obwohl er noch nicht lange in der Abteilung arbeitete, als meisterhafter Redner bekannt. Er war ein glänzender Vernehmer, brachte jeden zum Reden, formulierte seine Gedanken exakt und legte sie klar und logisch dar. Eine Information aus seinem Mund konnte einfach nicht verschwommen klingen. Es sei denn . . . Es sei denn, das war Absicht. Vermutlich eine Anweisung von Gordejew. Er wollte nicht, dass seine Mitarbeiter Details über die Vorgänge in der Wohnung der Filatowa erfuhren und sein missbilligendes Urteil über Bashow und Golowanow in den Fluren der Petrowka verbreiteten. Darum hatte er Nastja nach der Sitzung allein dabehalten und sie nicht im Beisein der

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