Anastasija 06 - Widrige Umstände
Sacharow auf heute Abend verschieben. Haben Sie ihn gefragt, worüber er sich mit der Filatowa auf der Fahrt unterhalten hat?«
»Nein. Ich habe gar nicht mit ihm gesprochen. Man hat mir ein Protokoll der Vernehmung bei der Verhaftung gegeben und mich beauftragt, seine Aussage zu überprüfen. Und das habe ich getan.«
»Klar.« Nastja nahm ein leeres Blatt Papier. »Ich werde Ihnen aufschreiben, welche Fragen Sie unbedingt im Institut klären und wonach Sie Sacharow fragen müssen. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Sehen Sie zu, dass Sie im Institut nur mit Frauen sprechen. Die Vernehmung der Männer überlassen Sie . . . Wer arbeitet noch an dem Fall?«
»Korotkow und Larzew.«
»Also Korotkow. Er ist unscheinbar genug, um bei den Männern keine Rivalitätsgefühle aufkommen zu lassen. Und noch etwas, Mischa: Nehmen Sie ein Aufnahmegerät mit. Ich brauche die Aussagen wortwörtlich, nicht Ihre Eindrücke. In Ordnung?«
»Gut, Anastasija Pawlowna.«
»Sie sind doch nicht gekränkt?« Nastja lächelte. »Nicht gekränkt sein, Mischa. Gedächtnis und Aufmerksamkeit sind selektiv. Ich vertraue Ihrer Gewissenhaftigkeit, aber die Selektivität sitzt in uns, wir können sie nicht willentlich ausschalten. Auch mir kann etwas entgehen. Darum brauchen wir einen Mitschnitt. Eine letzte Frage: Ist der Obduktionsbericht schon da?«
»Soll gegen Mittag fertig sein. Aber das Protokoll geht sofort an den Untersuchungsführer. Der möchte gern, dass es ein Unfall war.«
»Ich verstehe.« Nastja nickte. »Wer hat die Obduktion vorgenommen?«
»Airumjan.«
»Schön, ich werde ihn anrufen. Na dann los, Mischa. Hier, meine Spickzettel. Wir sehen uns morgen früh um acht. Ich möchte alles erfahren, bevor Sacharow entlassen wird. Ach ja, das hätte ich beinahe vergessen: Wer von der Technik war in der Wohnung der Filatowa?«
»Oleg Subow.«
»Die Fotos sind wahrscheinlich schon beim Untersuchungsführer? Also müssen wir Subow lieb bitten, dass er für uns auch Abzüge macht.«
»Hab ich schon.« Mit diesen Worten entnahm Mischa seiner Mappe Fotos vom Tatort. »Hier.«
»Mischa, ich vergöttere Sie.« Nastja deutete einen Kuss an. »Nun aber los. Ich erwarte Sie morgen um acht.«
Dozenko ging, und Nastja nahm sich die Fotos vor. Da war die Tote selbst. Ein interessantes Gesicht, fand Nastja, nicht sehr ebenmäßig, aber ausdrucksvoll. Sie hatte bestimmt Erfolg bei den Männern gehabt. Die Küche war klein, etwa fünf Quadratmeter, sehr schmal. Der Flur. An der Wohnungstür ein Schränkchen, darauf ein Telefon. Deutlich erkennbar standen unter der Garderobe Turnschuhe mit langen, aufgebundenen Schnürsenkeln ordentlich nebeneinander. Da stimmt doch was nicht, dachte Nastja. Sie muss schnell Geld holen und es dem Fahrer bringen, Stattdessen bindet sie sich sorgfältig die Schnürsenkel auf, stellt die Turnschuhe an ihren Platz, geht in die Küche und schaltet den Herd ein. Hätte sie Sacharow nicht ihren Ausweis dagelassen, könnte man denken, sie wollte ihm das Geld gar nicht bringen. Was hatte sie in der Küche zu suchen? Vielleicht bewahrte sie dort ihr Geld auf? Nastja machte sich eine Notiz auf einem Blatt mit der großen Überschrift »Subow«. Andere Variante – das Geld war im Zimmer, draußen goss es, die Turnschuhe waren nass, sie hat sie ausgezogen, um den Teppich nicht zu beschmutzen. Sie schrieb eine zweite Notiz auf das Blatt »Subow«. Eine Panoramaaufnahme vom großen Zimmer. Perfekte Ordnung. Man sah, dass lange niemand darin gewesen war. Die Sessel standen exakt symmetrisch zu beiden Seiten eines Teetischchens. Detailfotos – Bücherregale, Schrankwand. Ein Amateurfoto von Irina, sehr gelungen. Das Foto einer Frau um die Vierzig, vermutlich ihre Mutter. Hinter einer der Glastüren der Schrankwand eine Sammlung kleiner Glasfiguren: Tiger, Schlange, Hahn, Hund, Katze – zwölf insgesamt. Sonst keinerlei Nippes, nur Gebrauchsgegenstände und Bücher. Das kleine Zimmer. Eindeutig das von Irina. Eine Couch, ein Schreibtisch mit Schreibmaschine, ein Sessel, eine Stehlampe. Sonst nichts – das Zimmer war sehr klein.
Ohne den Blick von den auf dem Tisch ausgebreiteten Fotos zu lösen, langte Nastja nach einer Zigarette. Plötzlich blieb ihre Hand in der Luft hängen, sie verspürte eine Kälte in der Magengegend. Etwas stimmte hier nicht. Sie sammelte die Fotos ein und nahm sie einzeln zur Hand. Wieder verspürte sie einen Stich.
Nastja Kamenskaja wusste genau: Was sie beim Betrachten der Fotos gespürt
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