Anatomie Einer Nacht
fast durchsichtige Gardinen mit roten Schleifen, ein Hochzeitsgeschenk. Auf dem Boden ein grauer Teppich, mittlerweile so hart und glatt wie Linoleum.
Sofie schnarcht. Inger klettert ins Bett, schlüpft unter die Decke, dicht an ihre Tochter heran, das Mädchen murmelt im Schlaf, Inger streicht ihr übers Haar, küsst ihre Ohren und stellt sich vor, wie sie sagen würde, nicht, Mama, das kitzelt, dann klettert sie wieder aus dem Bett, schließt die Schlafzimmertür hinter sich und setzt sich zu Mikkel, dem langsam die Augen zufallen. Er fuhr heute Ella den ganzen Tag im Fjord spazieren, zwischen Wolkenkratzern aus Eis, aber lass dich ordentlich bezahlen, hatte Peder grinsend gemeint, du musst eine Familie ernähren, und Mikkel hatte genickt, er konnte zusätzliche Einnahmen gebrauchen, er arbeitete an unterrichtsfreien Tagen im Hotel Amarâq , unternahm Touren mit Touristengruppen, erledigte Reparaturen, Maler- und Tischlerarbeiten und half in der Küche aus, dann beschämte er den Hotelkoch, wenn sein Apfelkuchen größer, flaumiger und gelber war. Kuchenbacken war, zur Belustigung aller, Mikkels größte Leidenschaft, der er an jedem Regentag nachging. Und konnte er eine Zutat in Amarâq nicht auftreiben, flehte er die Touristen an, sie ihm zu schicken. Manche erfüllten ihm den Wunsch, dann tauchte die Ingredienz ein halbes Jahr später auf, völlig ausgetrocknet.
Im Bauch des Motorboots, zweibauchig, ein Vorder- und ein Hinterbauch, hatte Mikkel das Gewehr verstaut sowie die Schachteln mit Munition und die Tasche aus dickem Plastik, in der er die Fische transportieren wollte, sollten sie welche fangen. Die Kiste mit Konserven, Mehl, Haltbarmilch, Toastbrot, Reis, Nudeln, Senf, Keksen, Marmelade und Schokolade für den Geologen und seine Familie, die sich in einer Bucht am Fjord für das nächste halbe Jahr häuslich eingerichtet hatten, in einem Blockhaus mit Hausbären, einem Eisbären, der die Fenster des Geologen anbrüllte und dessen Vorräte fraß, hievte er auf die Sitzbank, ein Kaffee- und Keksstop war fix eingeplant. Mikkel wischte mit einem alten Lappen Blut und Schlamm vom Boden und rieb schnell den Platz neben dem Fahrersitz trocken, einen schmalen Sessel mit roten Plastikpölstern. In der Nacht hatte es nicht geregnet, aber der Morgentau hatte sich auf den Sitzen niedergelassen und war noch nicht ganz verdunstet. Erst um elf Uhr war er mit Ella verabredet, das Wasser war glatt, der Sonnenschein warm, der Himmel blau, sie würden den Wellengang kaum spüren, dachte Mikkel, während er in den Overall schlüpfte, der ihn vor Nässe und Kälte schützen sollte, als er schon ihre kleine, dunkle Gestalt den Steg entlanghuschen sah, sie trug einen grauen Daunenmantel, schwere Lederstiefel, grobgestrickte Wollhandschuhe und eine dicke Haube, hej Ella, rief er, hier bin ich. Sie lächelte und winkte, an ihrem Handgelenk, zwischen dem Saum des Handschuhs und der Ärmelöffnung, baumelte eine Digitalkamera, hej Mikkel, rief sie, und er erinnerte sich, wie sie bei ihrer ersten Begegnung von der Reisezeitschrift erzählt hatte, für die sie die Reportage schreiben sollte, und von den Dingen, die sie gerne sehen würde, und das alles in Englisch, sie konnte kein Dänisch und er kein Deutsch, so war bloß Englisch übriggeblieben, und auch das sprach er nur gebrochen, obwohl er das Fach unterrichtete, für Ella aber hatte es gereicht. Und es hatte ihm gefallen, ihr einfach zuzuhören, ohne zu wissen, was sie sagte, denn sie hatte eine sehr hohe, klare Stimme, und mit dem wirren Blick und der aufgeregten Gestik hatte sie Ähnlichkeit mit einem Vogel, besser noch, mit einem Vogel aus einer anderen Zeit, aus einer anderen Welt, der Welt, nach der er sich seit seiner Abreise aus Dänemark vor sieben Jahren, als er beschlossen hatte, ein grönländisches Abenteuer zu erleben, immer mehr sehnte –
er beugte sich zu ihr und küsste sie.
Mikkel.
Er fährt hoch.
Geh schlafen.
Inger stupst ihn an, er steht auf, unbeholfen, wacklig auf den Beinen. Er vermeidet es, sie anzusehen, murmelt gute Nacht und geht ins Schlafzimmer. Die Tür schließt er hinter sich, so leise wie möglich.
Als Kleinunternehmer ging es Per schon einmal besser, er verkaufte mehr als jetzt, Schnitzarbeiten und Schmuck, die er in der Werkstätte SKUNK anfertigte. Sie war von der Stadt eingerichtet worden, um Menschen wie ihm, Arbeitslosen und Obdachlosen, die Möglichkeit zu bieten, Geld zu verdienen. In diesem Atelier gab es drei Tische, das
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