Anatomie Einer Nacht
betreuten, Lone und Janne, und der Leiter des Hauses, Stin, kehrte Per zurück, er wartete an der Eingangstür des Hauses, als wäre nichts passiert: als hätte man ihn ausgesperrt und müsste ihn nun wieder einlassen.
Stin fasste Per am Nacken, fuhr mit seinen Fingern in dessen Nasenlöcher und zog das Kind durch die Stadt, während er Mörder murmelte, Mörder, Mörder, und Lone murmelte mit ihm, sie begleitete sein Flüstern mit ihrem sanften Sopran, und fast klang es, als würden sie singend durch die Gegend ziehen, Lone und Stin mit Per im Schlepptau, als wäre es ein Schauspiel, das sie darzubieten hatten, hätten sie nicht nur ein Wort gesagt: Mörder.
Kurz bevor Per in Keyis Hütte untertauchte, wurden die Leichen von Lone und Stin gefunden. Sie lagen mit tiefen Schnittwunden im Gesicht, an den Händen und auf der Brust im Schlafzimmer der neuen Waisen, deren frischrenovierte Heimat plötzlich zu einem Sarg geworden war.
Im Grunde war Sara nicht adoptiert worden, sondern hatte selbst adoptiert, die Ferne, indem sie ihr beharrlich gefolgt war, von Ausflug zu Ausflug, zunächst hatte sie auf den Boden gestarrt, jeden Kontakt vermieden, später aber war sie den Blicken gefolgt und hatte selbst Blicke dosiert, im richtigen Moment das richtige Lächeln, und am Ende der drei Wochen, so hatten es ihre Adoptiveltern geschildert, hatten sie sich nicht mehr von ihr trennen wollen.
Sie konnte sich kaum noch an ihre Ankunft in Kopenhagen erinnern, nur an eine große Düsternis, die über der Stadt und dem Haus lag, das Treppengeländer so schwarz, so gewunden, dass sie dachte, sie steige auf einen dieser Bäume, die sie auf dem Weg vom Flughafen gesehen hatte, und es roch nach Regen, etwas schwächer als in ihrer Heimat, süßlicher, wärmer, aber sie erkannte ihn wieder, seinen Geruch, seinen Klang, und die Ferne schmerzte sie, zum ersten Mal.
Der Schmerz hielt an und kehrte in regelmäßigen Abständen wieder, und jedes Mal versuchte sie zu flüchten, blieb bei Wanderungen zurück, versteckte sich im Wald, um nicht gefunden zu werden, doch immer blieb die Gruppe stehen und wartete auf sie, so dass ihr nichts anderes übrigblieb, als ihr Versteck aufzugeben.
Vielleicht war ihr Dilemma, dass sie niemals Gemeinschaft fand, obwohl es genau das war, was sie sich sehnlich wünschte, ein Sehnsuchtswunsch, nicht nur Sehnsucht, nicht nur Wunsch, sondern die Kombination aus beidem, aber selbst wenn sich Sara einem anderen Menschen anvertraute, gab es diese Distanz zwischen ihnen, das Fremdsein, das sich zwischen sie schob und eine echte Vertrautheit unmöglich machte, und nicht einmal sich selbst lernte sie kennen, weil sie es verlernt hatte, nach sich selbst zu fragen. Die einzige Zuflucht schien in der Fremde zu liegen, die aus der Entfernung stets ein Ort der Geborgenheit war, sobald sie aber betreten wurde, trat ihre Fremdheit zurück, und Sara musste sich eingestehen, dass das Ferne auch eine Heimat war, für alle anderen, aber nicht für sie.
Vierzehn Jahre später packte sie einen Rucksack und verließ nach einem stummen Abschied das Haus ihrer Adoptiveltern, um den Ort aufzusuchen, an dem sie etwas zurückgelassen hatte, das sie Heimat nennen wollte. Zumindest glaubte sie dies tun zu müssen, das Gefühl verfolgte sie, sie hätte damals, als sie sich für die andere, größere Welt entschied, die Gelegenheit verpasst, zur Ruhe zu kommen, geborgen zu sein. Sie glaubte, diesen Moment wiederherstellen zu können: Sie bräuchte nichts anderes zu tun, als an den Ort zurückzukehren, an dem sie die falsche Entscheidung getroffen hatte, und das Leben würde einen anderen Verlauf nehmen und sie wäre endlich glücklich –
und doch steckte sie vor der Abreise den ganzen Vorrat an Schlaftabletten ein, den sie besaß.
Allzu oft erscheint es Sara, als würde sie an einer Klippe entlanggehen. An schlechten Tagen läuft sie am äußersten Rand, balanciert gerade noch an der Kante, an guten Tagen bewegt sie sich von ihr weg ins Innere des Gebirges. Manchmal rutscht sie ab, sie hört das leise Bröckeln der Steine, und in dem Moment denkt sie, es wäre eigentlich gar nicht so schlimm abzurutschen, endlich abzurutschen, loszulassen: als hätte sie viel zu lange an etwas festgehalten, das nie bei ihr bleiben wollte, das nie zu ihr gehörte.
Auf dem Heimweg, den Kirchturm im Blick, der abends von vier Straßenlaternen, mehr als das durchschnittliche Gebäude in Amarâq, dottergelb beleuchtet wird, malt sich Inger aus, wie sie
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