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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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Sofie die Geschichte zu Ende erzählen, wie sie sagen würde:
    Der Schnee hatte begonnen zu fallen, die Gipfel der Berge waren in Nebel gehüllt, auf der See ein Sturm, der nicht aufhörte, sich zu drehen, bis er erwachsen war, dann entfaltete das Wasser seine Flügel und peitschte den Entführern ins Gesicht, das Boot begann, Wellen zu schlucken, und Niels verdoppelte, verdreifachte seine Geschwindigkeit, und die Winde verdoppelten, verdreifachten ihre Kraft, das Boot drohte zu kentern, und Niels holte auf, da beschwor Inger ihre Brüder umzukehren, sie würden es in diesem Unwetter niemals schaffen, sie musste sie anflehen, ihnen drohen und mit ihnen streiten, bis sie endlich nachgaben, ihr Vater aber war so wütend, dass er sie an den Armen packte und über die Reling ins Wasser werfen wollte, doch sie hielt sich mit einer Hand am Bootsrand fest, und als sie nicht losließ, schlug er gegen die Finger seiner Tochter und hätte ihr die Hand gebrochen, wenn sich das Meer nicht plötzlich beruhigt hätte und der Sturm, aufgezehrt, mit einem Gurgeln versunken wäre.
    Sobald sie wieder an Land waren, flüsterte sie ihren Hunden zu: Beißt meinem Vater die Füße ab.
    Drei Tage lang verweigerte sie ihnen das Futter. Schließlich konnten es die Hunde kaum noch erwarten, sie stürzten sich auf ihn, schnappten nach seinen Armen und zerbissen seine Beine.
    Am Abend darauf packte Inger Sofie, ihre Kleider, die zwei Bücher, die ihr gehörten, das Fotoalbum, den Kochtopf und etwas Geschirr und verließ Niels –
    aber etwas wurde ihr in dieser Nacht genommen, etwas zerbrach in ihr.

4    Früher hätte Keyi Per aus dem Fenster ins Freie gezerrt, er hätte ihm befohlen, die entwendeten Gegenstände zurückzugeben, er hätte gesagt, dass er Diebstahl nicht dulde, heute sieht er zu, wie Per, die Hände in den Hosentaschen, einen Rucksack auf dem Rücken, die nassen Schuhe an den Holzstufen abstreift und auf den Boden spuckt, dabei Keyi weder ansieht noch anspricht, als gäbe es ihn nicht: als hätte es ihn nie gegeben.
    Per hebt die Trommel aus der Pfütze, schüttelt die Feuchtigkeit ab, die Tropfen fallen auf die Erde, sie glitzern in der Dunkelheit, denn sie fangen das wenige Licht der Straßenlaterne ein und bündeln es. Er stellt sie neben die Treppe, ebenso die anderen Teile seines Schlagzeugs, wischt mit seinem Ärmel darüber, dann zündet er sich eine Zigarette an, nimmt einen, einen zweiten, schließlich einen dritten Zug, ehe er sich umdreht und dem Straßenverlauf, der hier lediglich angedeutet ist, durch die kahle Hügellandschaft langsam in Richtung Stadtzentrum folgt, vorbei an Keyi, dem Unsichtbaren.
    Dieser, verdutzt über Pers partielle Blindheit, passt sich schnell an. Es kommt ihm nicht ungelegen, dass er nicht gesehen wird, tatsächlich erscheint es ihm sogar, nach reiflicher Überlegung, logisch, dass er ausgerechnet in dieser Nacht nicht existiert, er verbessert sich, nicht mehr existiert. Ein Lächeln breitet sich in ihm aus, der Gedanke belustigt ihn, dass er länger gehabt hat, als er hätte haben dürfen, dass er seine Lebenszeit überlebt hat und so eine Zukunft sehen durfte, die er eigentlich nie hätte sehen dürfen, und wie einem Menschen aus der Zukunft erscheint es ihm normal, dass er sich nun zurückziehen, dass er nicht in eine Gegenwart eingreifen darf, in der es ihn nicht mehr gibt.
    Er rückt die Tasche auf seiner Schulter zurecht und steuert auf Malins Fenster zu, steckt seine Hand durch das Loch, drückt den Griff hinunter. Ehe er ins Haus klettert, fällt sein Blick auf die Berggipfel in der Ferne, die sich in die Ränder des schwarzblauen Himmels verwandelt haben.
    Niels verabschiedet sich von Lars.
    Kommst du mit ins Pakhuset?
    Lars schüttelt den Kopf.
    Ich bin hier verabredet.
    Er sieht auf die Uhr. Eigentlich müssten sie schon längst da sein, Magnus und Ole, das lautlose Paar, wie er sie nennt. Sie hatten ihn am Nachmittag im Kinderheim besucht und gesagt, es sei dringend, sie müssten ihn unbedingt heute Abend sprechen. Er versuchte gerade, auf der Rückseite einer Supermarktquittung, die sich aus Altersschwäche und Feuchtigkeit zu einem Viertel um die Tischkante gewickelt hatte, den Traum von letzter Nacht aufzuschreiben, bevor sich die Türen des Horts öffnen und die Kinder auf die Wendeltreppe zulaufen und in den ersten Stock trappeln würden. Sie hatten es auf die Kleiderspindel abgesehen, auf der sich so schön Karussell fahren ließ, die Kleineren hielten sich dabei an

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