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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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all die anderen vorzog, und er hatte die Gemeinschaft verlassen, seine Familie, und war in die Berge ausgewichen, in denen er versucht hatte, sich in einem Ausmaß zu verirren, dass es ihm niemals wieder möglich sein würde, den Weg zurück zu finden.
    Im Exil hatte er langsam wieder das Gefühl bekommen, für sich selbst sorgen zu können, er hatte gespürt, wie er sich in sich auszubreiten begann, Platz fand: Dies hatte er Freiheit genannt. Für ihn war sie schon immer dort gewesen, wo bestimmte Personen nicht waren.
    In Kopenhagen erreichte ihn die Nachricht, dass sich Malin erhängt habe, und nun erinnert er sich, er stellt die Dose ab, dass er in diesem Moment beschlossen hat, heimzukehren, auch ohne seine Tochter, die es bei Kristina besser haben würde, mit all den Möglichkeiten, die ihr Dänemark bieten konnte. Und als er Kristina und ihren Kollegen beim Abschied sah, ein Abschied, der stellvertretend für ihren stehen sollte, nicht, weil es ihm so schwergefallen wäre, sich von ihr zu verabschieden, nicht, weil ihn Schuldgefühle belasteten, sondern weil er sich für Kristinas Zärtlichkeit für den anderen rächen musste, packte er seinen Rucksack und ging und blickte nicht zurück –
    bis ihn seine Tochter anrief und darauf bestand, ihn zu besuchen.
    Mikileraq zieht sich um. Sie schlüpft in ihren Mantel und schließt die Haustür leise hinter sich. Beinahe hätte sie Majas Plastikküche, die unter dem Fenster steht, umgestoßen. Vorsichtig geht sie die Terrassenstufen hinunter, tastet sich das kurze dunkle Stück auf die Straße, die ihr Haus mit der Schule und dem Krankenhaus verbindet, und geht in Richtung Hafen. Sie ist auf dem Weg in die Disko, in der sie sich normalerweise nie zeigen würde, da sie es nicht für richtig hält, als Lehrerin in einem Nachtlokal gesehen zu werden, in dem ihre Schüler jedes Wochenende verbringen, aber heute ist sie auf der Suche nach jemandem, von dem sie meint, dass sie ihn dort finden wird, dort und nirgendwo sonst.
    Vor dem Pakhuset drängt sich eine Menschentraube um den verschlossenen Eingang. Sie würde mindestens eine Stunde warten müssen, überlegt Mikileraq. Unschlüssig sieht sie sich um, vielleicht, denkt sie, wartet auch er hier? Sie unterzieht den Haufen einer Musterung, ihrem forschenden Blick nicht abgeneigt sind die Matrosen, deren Schiff für eine Woche in Amarâq angelegt hat, sie bieten ihr Zigaretten und Bier an, sie lehnt ab und erntet dafür Buh-Rufe, eine Schülerin aus ihrer Englisch-Klasse grüßt sie, hakt sich bei ihr unter und lehnt ihren Kopf an ihre Schulter, vielleicht ist sie müde, denkt Mikileraq und ist versucht, Asa nach Hause zu schicken, schließlich ist sie erst vierzehn, und es gibt eine Disko für die unter Siebzehnjährigen, die in den frühen Abendstunden in der verlassenen Wohnung neben dem Fußballplatz veranstaltet wird und wo man im blinkenden Licht der Weihnachtssterne tanzen kann, stattdessen drückt sie sie fester an sich und sucht weiter –
    als sich die Tür öffnet, Asa erwacht und, Mikileraqs Arm unter dem eigenen, zum Eingang drängt, und dünn und klein, wie das Mädchen ist, schafft sie es, sich und ihre Lehrerin hineinzuschleusen. Die Schlange vor der Kasse ist kurz, denn es wurde nur eine Handvoll Wartende eingelassen, Mikileraq zahlt für sie beide, Asa bedankt sich, lacht und verschwindet auf der Tanzfläche, nachdem ihr der Jüngling an der Kasse einen Stempel auf den Handrücken gedrückt hat. Mikileraq bleibt zurück und sieht sich um.
    Per ist nicht da.
    Inger lässt zehn Minuten verstreichen, zehn Minuten, in der sie die Ruhe nach Brüchen, Lücken und Rissen abtastet, sich versichert, dass die Stille im Haus stabil ist, ehe sie den Schrank neben der Couch öffnet, den Küchenhocker auf den Boden des Schranks stellt, auf die Sitzfläche steigt, den Gürtel, den sie aus Mikkels Hose gefädelt hat, zwei Mal um den Hals schlingt, die Riemenenden um die Stange wickelt, den Gürteldorn ins letzte Loch sticht, das Gürtelende durch die Schlaufe zieht, den Verschluss fixiert und sich an der Kleiderstange festhält, während sie sich aus dem Schrank beugt so gut es geht, um die Tür zu schließen.
    Sie hangelt sich zurück, atmet aus, atmet ein –
    beugt vorsichtig die Knie, verlagert das Körpergewicht in die Schlinge, geht langsam in die Hocke und sinkt in sich zusammen, sanfter Fall.
    Der Lederriemen zwingt sie, auf die Schrankdecke zu starren, die Schlinge schneidet in die Halsvorderseite und in die

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