Anatomie Einer Nacht
Halsseite, ihr Herz beginnt unregelmäßig und immer schneller zu schlagen, sie verliert das Bewusstsein.
Durch das Körpergewicht wird Gewebsflüssigkeit aus der Haut gepresst. In den Hals gräbt sich eine Furche, deren Schenkel der Negativabdruck des Gürtels sind, Loch für Loch ein Hautabguss. Dann treten Krämpfe auf, sie zerbeißt ihre Lippe und Zunge, beißt, obwohl sie bewusstlos ist, so lange zu, bis sie aus dem Mund zu bluten beginnt. Ihre Schultern und ihr Kopf bäumen sich auf, sie stößt mit dem Kopf an das Holz, schürft sich die Haut auf der Stirn und auf dem Nasenrücken ab, sie rammt ihre Füße und Beine in den Boden und gegen die Wände, schlägt mit den Armen um sich.
Sie schnappt nach Luft, doch zwischen den Atemzügen verlängern sich die Pausen.
Als ginge es um ihr Leben –
sie streichen die Brote, während sie sie essen, sie schmieren sie im Mund. Magnus, angesteckt von Ole, kaut, als könne er dadurch die Zeit antreiben, und Ole meint, mit jedem Bissen die Stille zerkleinern zu können, und sie sprechen nicht, sie schlucken und schmatzen, konzentrieren sich auf diesen Bewegungsablauf, als erlebten sie ihn zum ersten Mal, und im Grunde essen sie nicht mit Appetit, sondern mit Wut, weil sie wissen, was sie geplant haben, und weil sie den Plan ausführen werden, und sie sind wütend, weil sie Angst haben vor dem, was noch kommen wird, aber nicht wissen, wie sie es abwenden sollen, das Unglück, das sie selbst über Monate hinweg eingefädelt haben, und sie sind wütend, weil es sich ihrer Entscheidung entzogen hat, sie sind aufeinander wütend, weil sie meinen, der andere habe noch die Kontrolle, würde sie aber nicht ausüben –
weil ihm der Tod des anderen egal sei.
Sie essen, weil sie ihren Zorn schlucken müssen, weil sie nicht anders können, als ihn zu schlucken, und würden sie nicht essen, müssten sie sprechen, vielleicht sogar schreien, aber weil sie das nicht können, essen sie, und endlich ist nichts mehr da, sie haben das Toastbrot aufgegessen, also greifen sie nach den Cornflakes, schütten sich zwei Schüsseln voll und essen, und als sie die aufgegessen haben, verschlingen sie die Wurst aus dem Plastik ohne Brot, sie vertilgen den Apfel und die Birne, sie trinken das Haltbarjoghurt und würgen die Butterkekse hinunter, und schließlich ist nichts Essbares mehr da, und sie hören auf und sehen einander an. Aber dieser Blick vereint sie nicht wie sonst, sondern trennt sie, er schiebt sich zwischen sie, schiebt sie auseinander, so dass sie, obwohl sie Seite an Seite am Esstisch sitzen, meinen, sie säßen an verschiedenen Polen und sähen einander stark verkleinert, wie durch ein Fernglas; und das, was sie sehen, gefällt ihnen nicht, denn sie sehen Furcht.
Gehen wir.
Magnus bleibt am Küchenfenster stehen, am Fliegenfriedhof, die Fliegenleichen sind mumifiziert, ihre Körper eine Totenmaske, er stupst sie an, zeigt sie Ole, geht dann durch den kurzen Korridor zur Treppe und drückt sich an der linken Seite, an das Geländer geschmiegt, die Stufen hinauf. Er wird die Bilder nicht verrücken, die gestickten Blumen, konserviert hinter Glas.
Keyi streunt im Haus herum, sieht in jede Schublade, in jeden Spind, durchstöbert die Regale, er sucht nicht, er schaut, er möchte wissen, woraus ein Leben besteht, und wundert sich, dass es Dinge wie Besteck, Fotografien, Figuren aus Porzellan und Plastik, Kleidung, Geschirr, Seifen und Zahnpasta sind. Er denkt, es ist möglich, ein Leben in Listenform zu bringen, das Inventar zu erstellen, und wieder wundert er sich, dass es so einfach, so banal ist, als sein Blick auf seinen Rucksack fällt, der auf dem Couchtisch steht, und er denkt, dass diese Tasche sein Leben enthält, nicht sein ganzes, aber die Reste, und er öffnet sie und schielt hinein. Er traut sich nicht, die Gegenstände herauszunehmen und anzufassen, er belässt es dabei, von oben, aus sicherem Abstand, in die Öffnung zu lugen, und plötzlich trifft ihn der Gedanke, dass es das letzte Überbleibsel seines Lebens ist, das allerletzte, dass dies alles ist, was er hinterlassen wird, in diesem Moment geben seine Beine nach.
Er bleibt auf dem Teppich sitzen und weint.
Während er weint, meint er zu spüren, dass die Zeit stillsteht, dass sie Mitleid mit ihm hat und ihm ein paar Minuten schenkt, in denen er das, was noch von ihm übrig ist, aufsammeln und zusammensetzen kann –
als die Kerze erlischt.
Die Zeit ist nicht stehengeblieben, sie erwies ihm keine Gnade,
Weitere Kostenlose Bücher